Jürgen Habermas wird 90 Der Aufklärer
München · Jürgen Habermas gilt als einer der einflussreichsten Denker unserer Zeit. Am Dienstag feiert er seinen 90. Geburtstag.
Keine Äußerung von ihm zum 90.! Keine Diagnose unserer rasanten Zeit also, keine Nachdenklichkeit über Europa, kein Plädoyer für die Demokratie. Ausgerechnet Jürgen Habermas – der „öffentliche Intellektuelle“ – scheint sich zum runden Geburtstag eine öffentliche Enthaltsamkeit verordnet zu haben. Als habe all der Ruhm ihm die Sprache verschlagen. Denn kein Superlativ scheint in den vergangenen Jahren zu klein für ihn gewesen zu sein. Als eine philosophische „Weltmacht“ wurde er gar tituliert und dementsprechend mit den höchstdotierten Preisen dekoriert: unter vielen anderen mit dem Kluge-Preis (1,4 Millionen Euro), den Holberg- (520.000 Euro) und Kyoto-Preis (400.000 Euro).
Doch schweigende Zurückhaltung passt nicht zu Habermas, vor allem nicht zu seinem Lebenswerk. In dessen Zentrum steht die Theorie des kommunikativen Handelns. Mit ihr hat der in Düsseldorf geborene und in Gummersbach aufgewachsene Intellektuelle Anfang der 1980er Jahre etwas in Erinnerung gerufen, was im zunehmenden Weltgetöse vergessen zu sein schien: unsere Verständigung in der Sprache. Genauer: im Akt des Sprechens. Das hört sich banaler an als es ist. Seine Theorie meint den herrschaftsfreien Austausch von Argumenten und Gegenargumenten. Am Ende gibt es weder Sieger noch Verlierer, sondern Erkenntnisgewinner auf beiden Seiten.
Das beste Argument zählt im Akt des kommunikativen Handelns, die Vernunft regiert. Das ist Kant im Dialog-Format. Aber es ist längst kein Positivismus, kein Rationalismus in seiner reinen, das heißt auch kalten Variante. Weil unsere postmoderne Welt eine durch und durch entzauberte zu sein scheint, bedarf es immer auch einer Ethik unserer Kommunikation, einer Emanzipation aller Beteiligten, auch Wahrhaftigkeit. In einem solchen Diskurs vollzieht sich dann das, was in größeren Gesellschaftsordnungen Demokratie genannt wird.
Habermas ist immer sensibel geblieben für Entwicklungen, in denen eine solche Verständigung gestört oder nicht mehr möglich ist. Auch in der für ihn bestimmenden Zeit der Studentenrevolte. Den lauten Aufbegehrenden hat der damalige Marxist Habermas zwar reichlich philosophische Nahrung gereicht; doch hat er früh auch die zunehmende Gewaltbereitschaft erkannt und vor den Gefahren eines „linken Faschismus“ gewarnt.
Diskursfähigkeit ist bei Habermas nie graue und letztlich auch bequeme Theorie geblieben. Er hat, einfach angesprochen, an vielen Debatten des Tages einfach teilgenommen und das schon von Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere an. Einer seiner ersten publizierten Texte wird zu einer Abrechnung mit dem Großphilosophen Martin Heidegger. Und Habermas wählt dafür die Tageszeitung als Medium. So wurden die Vorlesungen Heideggers von 1935 knapp 20 Jahre später unkommentiert gedruckt. Darin aber ist von der „inneren Wahrheit und Größe der NS-Bewegung“ zu lesen. Habermas rebelliert, auch vor dem Versuch, den Mord an Millionen Menschen als eine Art „schicksalhafte Irre“ erklären und auf diese Weise verharmlosen zu wollen.
Das Thema wird Habermas begleiten, vor allem im sogenannten Historikerstreit. Den führt er gegen Ernst Nolte und den Versuch, die Vergangenheit zu relativieren. Es ist ein bedeutsamer Disput, denn wer die Erinnerung füllt, der gewinnt in einem geschichtslosen Land die Zukunft. Das Dritte Reich und seine Verbrechen sind als Zivilisationsbruch seiner Überzeugung nach so unvergleichlich, dass die Erinnerung daran nicht verblassen darf.
Wie lächerlich wirkt dagegen die „Zettel-Affäre“, in der Habermas dann selbst verstrickt zu sein scheint. Der Publizist Joachim Fest ist es, der in seiner Autobiografie kolportiert hatte, Habermas habe auf einer Party einen Zettel verschluckt, auf dem der Denker als junger Flakhelfer ein glühendes Bekenntnis zum Endsieg notiert habe. Blödsinn, wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler als seinerzeit Anwesender bezeugt. Das Scharmützel gibt am Ende bloß einen Blick frei aufs mitunter närrische Treiben des Intellektuellenbetriebs.
Jürgen Habermas ist vielleicht kein Kind seiner Zeit, dafür bewahrt er stets einen zu großen Überblick über das, was gewesen ist und sein könnte. Aber die erlebte Gegenwart hat sein Denken immer initiiert. Natürlich sind das die Erfahrungen aus der Diktatur, die Emanzipation wie auch die Radikalisierung der Studenten, schließlich die entfesselten Märkte einer Globalisierung. Mit ihrer ungeheuren „Kapitalmobilität“ greifen sie, so Habermas, „in das öffentliche Leben der Nationalstaaten ein, ohne an deren Legitimationsketten angeschlossen zu sein“.
Wie gut ist es, einen Denker wie Jürgen Habermas zu haben, lesen und hören zu können. Er ist wie ein Korrektiv unserer Zeit, die Korrekturen eher als Stotterbremse der dynamischen Entwicklung begreift. Auch darum ist Habermas so wichtig.
Als Ethiker, der Gentechnik im Grundsatz hinterfragt, weil er in der Zufälligkeit unserer genetischen Ausstattung die Voraussetzung einer Identitätsbildung sieht; sie kennzeichnet die Unantastbarkeit der Person, die Würde des Menschen. Mit jedem gentechnischen Eingriff aber muss der Mensch zum Ding werden.
Als Europäer und großer Fürsprecher einer zuletzt wankenden Union. Habermas hält dagegen: „Schon seit den Tagen der Französischen Revolution verrät sich in der spannungsreichen Differenz von Bürger- und Menschenrechten implizit der Anspruch auf eine globale Durchsetzung der gleichen Rechte für jeden.“ Solidarität und Emanzipation werden zu Säulen, auf denen die „Vereinigten Staaten von Europa“ stehen könnten.
Und als Gesprächspartner, der im Dialog einen Akt ethischer Selbstfindung sieht. Berühmt geworden ist sein öffentlicher Disput mit dem damaligen Kardinal Josef Ratzinger 2004. Es war ein Akt des kommunikativen Handelns, lernend, im gegenseitigen Respekt. Das Gespräch führte er nicht als „Atheist“ – ein solches Etikett wäre für Habermas zu simpel; er sei nur „religiös unmusikalisch“.
Ist sein Schweigen zum 90. nun doch ein Akt der Resignation? Kaum. Jürgen Habermas hat einfach nur viel zu tun. Nach gut 60 Büchern soll im Herbst das nächste bei Suhrkamp erscheinen. „Auch eine Geschichte der Philosophie“ soll es heißen, zwei Bände, etwa 1700 Seiten.