Paris Dem Zeichendeuter Roland Barthes zum 100.

Paris · "Die Erwartung ist Verzauberung; ich habe die Weisung erhalten, mich nicht zu rühren." Wahrscheinlich waren es auch Sätze wie diese, die uns Roland Barthes, sein Denken und sein Schreiben ans Herz legten. Mit seiner Stichworte- und Assoziationssammlung "Fragmente einer Sprache der Liebe" wurde uns behutsam das Tor aufgestoßen zu einer Welt, die wir so noch nie gesehen hatten: wohin wir auch schauten, überall nur Dinge, die Zeichen waren, die für etwas standen und von uns entziffert werden sollten. Das konnten Autos sein, Möbel und Reklametafeln. Die Mythen unserer Existenz stammten also nicht aus grauer Vorzeit; sie waren mitten unter uns - und alltäglich.

Roland Barthes - vor 100 Jahren in Cherbourg geboren und 1980 in Paris gestorben - ist als Mythenjäger in die Geschichte der europäischen Großdenker eingegangen. Wer ihm folgt, geht auf Distanz zur profanen Welt. Sie ist im Grunde nur semiologisches Material und kann immer bloß die Oberfläche sein, eine Art Code. Wer ihn knackt, wird kein Heilserlebnis erwarten dürfen, sondern lediglich die Befreiung vom Sinn. Am Ende steht nach Barthes das Bedeutungslose, die Vision der Leere. Das wiederum mag theoretisch und intellektuell entzücken, zu wünschen ist es niemandem.

Zum runden Gedenkgeburtstag ist indes wieder reichlich Sinn produziert worden - mit vielen Neuerscheinungen seiner Schriften, Biografien und anderen literarischen Nachdenklichkeiten. Über Roland Barthes kann man drei Jahre und drei Tage reden, ohne das Gefühl zu haben, ihm gerecht geworden zu sein. Doch muss man nicht das ganze Werk des Literaten und Philosophen inhalieren, um sich von seinem Denken inspirieren zu lassen.

So ist zum Jubiläum auch dieses kleine Bändchen von 1964 jetzt wieder erschienen, das ein Schatzkästlein seines Philosophierens und seiner Sprache ist, indem es sich allein der Decodierung des Eiffelturms annimmt: eins der stärksten Symbole für Paris und Frankreich und das Zeichen einer ungebrochenen Zuversicht in die Moderne. Doch so sehr sein Erbauer, Gustave Eiffel, sich auch bemüht, spätere Verwendungsmöglichkeiten anzupreisen - wie Telekommunikation, meteorologische Beobachtungen, aerodynamische Messungen -, so bleibt der Turm für Barthes ein Mythos. Er ist ein Traum und berührt die Grenze zum Irrationalen.

Und dann beginnt Barthes mit der Dechiffrierung, betrachtet das Baumaterial und deutet den Wechsel vom Stein zum Stahl als den Übergang vom Architekten zum Ingenieur. Allein aus dem Material des Eiffelturms leitet er die industriellen Bedingungen einer Epoche ab: Ist der Stein das "Symbol der Festigkeit und Unwandelbarkeit", das eigentliche Material jeder Wohnstatt, so nimmt das Eisen am Mythos des Feuers teil. "Sein Gott ist Vulkan, der Ort seiner Schöpfung die Werkstatt." Eisen ist erarbeitete Materie und in diesem Sinn Ausdruck seiner Epoche.

Der Eiffelturm ist nutzlos; er resümiert nur die mit Hilfe des Eisens errungene Herrschaft über Raum und Zeit. In ihm wird der Geist der Moderne sichtbar, mit der die Gegenwart nein zur Vergangenheit sagt. Der Eiffelturm betrachtet Paris. Er selbst ist das "reine Zeichen", offen für alle Zeiten. Und die Durchbrochenheit seiner Konstruktion lässt die Leere sehen "und bekundet das Nichts". So scheint der Turm bei Roland Barthes endlich ans Ziel aller Entzifferung gelangt zu sein.

Lesetipps "Der Eiffelturm". Suhrkamp, 80 S., 9 Euro; "Fragmente einer Sprache der Liebe", Suhrkamp, 400 S., 25,95 Euro; "Mythen des Alltags", 9,99 Euro

(los)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort