Das Zeichentrick-Wunder aus Irland

Das gezeichnete Familiendrama "Die Melodie des Meeres" war für den Oscar nominiert. Nun kommt das schöne Werk auf DVD heraus.

Vor sechs Jahren ging die Mutter ins Meer und kam nicht wieder. Seitdem ist das Leben kalt und dunkel. In einem Leuchtturm an Irlands stürmischer Küste wohnt Conor (im Original gesprochen von Brendan Gleeson) mit seinen beiden Kindern. Damals, mit der Mutter noch im Haus, war er ein fröhlich polternder Bär von einem Mann. Jetzt trinkt er zu viel und spricht zu wenig. Mit dem zehnjährigen Ben und der sechsjährigen Saoirse weiß Conor nicht umzugehen. Ben hat Angst vor dem Wasser, Saoirse ist stumm. Vielleicht redet sie nicht, weil Conor seiner Tochter nicht verzeihen kann, dass die Mutter direkt nach ihrer Geburt verschwand.

Visuell und womöglich auch inhaltlich war "Die Melodie des Meeres" aus der Hand des irischen Animators und Regisseurs Tomm Moore das Schönste, was im vergangenen Jahr ins Kino kam. Und auch der eine Film, der an den Kassen nicht die Aufmerksamkeit bekam, die er verdiente. Von der Kritik wurde er bejubelt, gewann den Europäischen Filmpreis für Animation und wurde für einen Oscar nominiert, scheiterte dort aber an der Disney-Konkurrenz "Baymaxx". Ein Grund dafür mag sein, dass "Die Melodie des Meeres" sich beharrlich und zielstrebig ihren eigenen Stil sucht, eine ganze Welt entfernt von Kommerz und Mainstream.

Am ehesten lässt sich Moores ornamentale Bildpoesie mit den Meisterwerken des Japaners Hayao Miyazaki vergleichen, "Chihiros Reise ins Zauberland" zum Beispiel. Dann aber auch wieder gar nicht. "Die Melodie des Meeres" ist keltisch, durch und durch. Die ganze irische Mythenwelt zieht sich durch Tomm Moores Märchen, kaum eine Szene vergeht ohne ein magisches Wesen, ein Sprichwort oder ein altes Lied.

Saoirse erkrankt eines Tages, ihr nachtschwarzes Haar ergraut Strähne für Strähne, von Tag zu Tag wird das Kind weniger. Als der Vater nachts in der Kneipe den Kummer mit Bier zuschüttet, findet die Kleine im Leuchtturm einen Mantel der Mutter, leuchtend weiß und aus Robbenfell. Saoirse zieht ihn an, springt ins Meer und taucht selig mit den Robben, bis die Wellen sie am Morgen ohnmächtig an den Strand spülen.

Der Vater wirft den Mantel in die Wellen und ruft die Großmutter herbei. Die meint es gut, entscheidet aber falsch. Sie holt die beiden Kinder zu sich ins lärmende Dublin, weg vom versteinerten Vater, weg von der windigen Küste. Ben aber hat mittlerweile verstanden, dass seine Schwester, wie die Mutter, eine Selkie ist. Ein Fabelwesen zwischen Land und Meer, das den verlorenen Mantel finden und in den Ozean muss, um zu überleben.

In der irischen Sagenwelt sind Selkies Robben, die menschliche Gestalt annehmen können, und auch Symbole der Trauer um jemanden, den man ans Meer verloren hat. Moore macht daraus ein Familiendrama mit regionalem Flair, aber seine Themen sind universell. Respekt vor der Natur, die Liebe eines Mannes für seine Frau, elterliche Verantwortung, Umgang mit Trauer. Vor allem aber erzählt er von der Kraft der Gedanken eines Kindes. Wenn Saoirse die Elfenmagie in den Film bringt, so ist Ben der Actionheld, ein Junge, der große Aufgaben lösen und noch größere Ängste bezwingen muss, damit seine Schwester nicht stirbt. Es sind gefährliche Prüfungen mit monströsen Kreaturen, für kleine Kinder oft zu düster. Aber der ätherisch wehende Soundtrack, eingespielt von Lisa Hannigan, dem Filmkomponisten Bruno Coulais und der Folkgruppe Kila, nimmt dem Ganzen den Stachel. Weil die Kelten ohne ihre Traditionsmusik nicht denkbar sind, muss Saoirse singen und auf einer Muschelflöte die Melodie des Meeres spielen lernen.

Worte sind hier weniger wichtig, Klänge und Gestalten dagegen alles. Elfen aus Stein, vergrämte Eulenhexen und Geschichtenerzähler an heiligen Quellen begegnen Ben und Saoirse auf dem Weg zurück zum Leuchtturm. Dort wartet nicht nur der Vater, sondern auch das zauberhafteste Wesen von allen. Aber nicht für ein simples Happy End.

(RP)
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