Urlaubsphänomen Wir sind alle bloß Bettenwechsler

Dagebüll · Angeblich soll dieses Wort ja in den 1990er Jahren in die Welt gekommen sein. Ein technokratischer Begriff ursächlich aus der Tourismusbranche. Und doch ist er wie kein zweites Wort Inbegriff eines sommerlich-spektakulären Dramas: Wenn sich gelebtes Sommersonnenglück und heitere Ferienhoffnung einander begegnen.

Diesen Wendepunkt der menschlichen Existenz nennt man „Bettenwechsel“.

Das klingt ziemlich pathetisch für den im Grunde simplen Vorgang, dass am Ende einer Ferienwoche die einen Gäste abreisen und andere dafür kommen. So weit, so nüchtern — und so deprimierend. Der Bettenwechsel beschreibt eine Wirklichkeit, die wir, die Feriengäste, gerne ignorieren. Denn ganz egal, ob wir nun ein Hotelzimmer, das Ferienhäuschen oder die Ferienwohnung beziehen, immer wollen wir das Gefühl haben, die ersten und einzigen zu sein, die sich dort niederlassen und einrichten. Diese Exklusivität ist Teil des Urlaubsglücks, ist die naive Illusion von Individualität. Denn sich bei der Ankunft ernsthaft vorzustellen, wer wenige Stunden vorher an diesem Frühstückstisch gesessen, unter dieser Dusche gestanden und in diesem Bett gelegen hat, ist fatal. Wir wollen einfach nicht nachleben und genießen, was andere vorgelebt und bereits genossen haben. Wir Urlauber bestehen auf Erlebnisse, Erfahrungen, Begegnungen, die einzigartig sind, unverwechselbar. Sicher, ein solcher Anspruch beziehungsweise eine solche Imagination kann psychologisch hilfreich sein, mit der Wirklichkeit hat das vor allem in der emsigen Hochsaison selten etwas zu tun. Und weil wir genau das nicht unbedingt wissen wollen, zählt der Bettenwechsel zu den Unwörtern des Urlaubers.

Was aber, wenn die Realität uns irgendwann dann doch vor Augen tritt? Wenn man also den Vorgängern oder Nachzüglern gar nicht aus dem Wege gehen kann? Das geschieht besonders an den Nadelöhren touristischer Zufahrtswege. Eins davon sind die deutschen Nordsee-Häfen, zu denen auf dem Festland wie auch auf dem betreffenden Eiland oft nur eine Straße führt.

Der Prolog dieses Schauspiels setzt ein mit dem Anlegen der Fähre, wenn sich die Autos langsam vom Schiff quälen, während die anderen wie beim Formel-1-Start in den Wartebuchten auf das entsprechende Signal lauern. Das ist die schaurige Stätte der Begegnung: In den anfahrenden Autos die Blassgesichtigen, gezeichnet vom Stress der letzten Arbeitstage und dem wie stets viel zu späten Kofferpacken, in den abfahrenden Automobilen die Sonnengebräunten, gestresst vom hektischen Packen und den ersten Gedanken an die bevorstehenden Pflichten daheim. Das Erschrecken auf beiden Seiten kann enorm sein, denn das, was wir im Gegenüber manchmal zu erkennen zu glauben, ist unser Spiegelbild.

In der Philosophie würde man von einem formidablen Dilemma sprechen, einer ethisch kaum zu lösenden Konfliktsituation – auf gut Deutsch: von einer echten Zwickmühle. Gestehen wir es uns lieber ein, dass wir alle mehr oder weniger immer auf einer Art Durchreise sind und immer nur zu einem Kreisverlauf gehören: Arbeit, Erholung, Arbeit; Koffer einpacken, auspacken, einpacken usw. Sind wir also stets nur Bettenwechsler hier auf Erden? Vielleicht, wäre da nicht das unglaubliche Meer, der Pannfisch, das Kinderkreischen im Watt, die Lebensrettung einer kleinen Krabbe. Alles einmalig, einzigartig, unglaublich – diesmal aber wirklich.

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