Eine Frage Des Stils Das süßeste Baby der Welt

Angenommen, eine Freundin hat ein Kind bekommen, und man sieht es zum ersten Mal – darf man der Mutter sagen, dass man ausgerechnet ihr Baby gar nicht süß findet?

 Unsere Kolumnistin Barbara Grofe.

Unsere Kolumnistin Barbara Grofe.

Foto: RP/ Ekkehart Malz

Angenommen, eine Freundin hat ein Kind bekommen, und man sieht es zum ersten Mal — darf man der Mutter sagen, dass man ausgerechnet ihr Baby gar nicht süß findet?

Zwischen Deospray und Bodylotion trafen die zwei Frauen im Drogeriemarkt aufeinander. Eine war mit Kinderwagen unterwegs, die andere ohne, die beiden kannten einander aus Schulzeiten. Die Kinderlose hatte die Bekannte noch nicht mit Kind erlebt, beugte sich also über den Wagen und schaute sich das Kind an. "Wie süß", sagte sie reflexhaft, die Mutter sagte "Dankeschön" und lächelte versonnen. Die Wege der Frauen trennten sich wieder, und die Kinderlose dachte: Eigentlich fand sie das Baby ehrlicherweise nicht besonders süß. Aber das kann man ja nicht sagen. Oder doch?

Unter erwachsenen Menschen ist es doch so: Lernt man den Freund einer Freundin kennen, käme man nie im Leben auf die Idee, ihr mitzuteilen, wie schrecklich unansehnlich man ihren Freund findet. Weil das nichts über das Wesen ihres Freundes aussagt, weil der Freund sich selbst und der Freundin gefallen muss und weil es überdies schrecklich unhöflich wäre. Bei einem Baby ist es ähnlich — wegen der Mutter- oder Vatergefühle nur um ein Vielfaches potenziert. Wer sich über den Kinderwagen beugt und "Ach du Schande" sagt oder "Na ja, das wächst sich sicher noch aus", hat vermutlich für lange Zeit das letzte Mal mit Kindsmutter oder -vater gesprochen. Zu Recht. Dass es aber Babys — wie auch Erwachsene — gibt, die man hübscher, sympathischer, ansprechender findet als andere, ist völlig normal. Wichtig ist also nur der Umgang damit.

In den Wagen zu schauen und zu erklären, das sei nun aber wirklich das süßeste Baby der Welt, wenn man das Gegenteil denkt, sollte keine Option sein. Lügen muss ausgeschlossen sein. Aber vielleicht hat das Baby ja eine ganz niedliche Nase, es kuschelt sich bezaubernd in den Wagen oder sieht unglaublich zufrieden aus. Das alles und 1000 weitere Dinge könnte der Babybetrachter sagen. Sich auf Details konzentrieren, den Blick auf das lenken, was er als positiv empfindet und das dann formulieren.

Das Beruhigende: Eltern finden sowieso, dass ihr Kind das schönste auf der ganzen Welt ist. Viel an freundlicher Reaktion braucht es also nicht. Aber etwas sollte es schon sein.

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(grof)
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