Amsterdam Das Rätsel der Mikroschnitzkunst

Amsterdam · Miniaturskulpturen, die auf wenigen Zentimetern Durchmesser Dutzende geschnitzter Figuren umfassen - das sind die "Kleinen Wunder" im Amsterdamer Rijksmuseum. Ihre Entstehung ist bis heute unerklärlich.

Man denke an Tilman Riemenschneiders viel bewunderte Holzschnitz-Altäre: Unter fein gedrechselten Ornamenten entfalten sich figurenreiche Szenen der Bibel. Jedes Gesicht hat sein eigenes Gepräge, jede Gestalt ihre eigene Pose, und die Komposition setzt alles hochästhetisch zueinander in Beziehung.

Zur gleichen Zeit wie Riemenschneider in Süddeutschland arbeitete der bis heute nahezu unbekannte Adam Dircksz in den nördlichen Niederlanden - mit dem Unterschied, dass seine biblischen Szenen nur wenige Zentimeter Durchmesser beanspruchen. Wie haben er und seine Werkstatt das hingekriegt? Das fragt sich jeder, der im Amsterdamer Rijksmuseum die Ausstellung "Kleine Wunder" besucht: mittelalterliche Schnitzkunst im Millimeterformat.

Die Biografie von Adam Dircksz, der in einem einzigen seiner Kunststücke als Adam Theodrici firmiert, ist so kurz wie kaum eine zweite. Er arbeitete zwischen 1500 und 1530, Geburts- und Todesdatum sind unbekannt, seine Werkstatt befand sich möglicherweise in Delft. Rund 130 Miniaturschnitzereien aus Buchsbaum haben sich erhalten: Figuren, Miniaturaltäre, kleine Särge, Schädelchen und sogenannte Gebetsnüsse.

60 davon sind nun in Amsterdam zu sehen: Arbeiten aus dem Besitz des Rijksmuseums und Leihgaben unter anderem aus dem New Yorker Metropolitan Museum, dem Louvre, dem Londoner Victoria & Albert Museum und der Schatzkammer der Residenz München.

Auf den tischhohen Vitrinen liegen Lupen bereit, damit man dem Künstler bis in Details folgen kann, also zum Beispiel den Korb erkennt, den ein Mann in einer Kreuztragungsszene mit sich führt. Wenn unsereiner schon mit Brille und Lupe Mühe hat, dem Bildschnitzer zu folgen - wie hat er selbst den Überblick behalten und vor allem: Wie ruhig muss seine Hand gewesen sein, damit er jede Figur nach seinem Willen makellos formen konnte? Welcher Technik bediente er sich dabei?

Das zentrale Rätsel dieser Kunst ist nach wie vor ungelöst. Lediglich am Rande hat die Forschung das ein oder andere geklärt. Auf Buchsbaumholz fiel die Wahl, weil diese Sorte nicht splittert. Und die Käufer der Miniaturen waren solche, die sich diesen Luxus leisten konnten. Wenn sie eine Gebetsnuss zur Hand nahmen, sie aufklappten und darin das Leiden Jesu erblickten, ging es ihnen nicht nur um Andacht, sondern auch um Spiel und Vergnügen, um die Lust, Winzigkeiten zu entdecken und zu deuten. Das wiederum vertiefte die Meditation.

Damit jeder erkennt, dass Adam Dircksz und seine Mitarbeiter sich nicht auf die begrenzte Sehkraft der Betrachter verließen und womöglich schluderten, ist eine der Miniaturarbeiten um ein Vielfaches vergrößert und in der Ausstellung an die Wand hinter der Vitrine gehängt worden, so dass man die Komposition mit bloßem Auge erleben kann. Es handelt sich um das Prunkstück der Schau: eine Gebetsnuss mit Kreuzigungsszene und mit Christus vor Pilatus, Leihgabe des Metropolitan Museum of Art.

So einzigartig diese Miniaturen wirken - es gab noch mehr Künstler, die sich diesem Genre verschrieben hatten. Das bezeugen in der Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum etliche Statuetten. Eine stammt von einem niederländischen Meister aus dem Umkreis des Jan Gossaert: "Der heilige Georg und der Drache". Figuren, Tiere und Architekturen türmen sich dabei grazil zu einer religiösen Szene. Die Maße gehen allerdings deutlich über diejenigen von Adam Dircksz hinaus: 28 mal 18 mal elf Zentimeter.

Da hätte Adam Dircksz vielleicht gesagt: Das kann ja jeder! Doch bei Spekulationen ist Vorsicht geboten. Wir wissen fast nichts von diesem Mann, einem Zeitgenossen Martin Luthers, Lucas Cranachs und Tilman Riemenschneiders im Schlagschatten der Welt- und Kunstgeschichte.

(B.M.)
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