Lettischer Stardirigent im Musikverein Bluttransfusion für die Wiener Philharmoniker

Wien · Das Neujahrskonzert, das diesmal Andris Nelsons leitete, gibt es bereits als CD. Sie konserviert auch die diesjährigen Besonderheiten des berühmten Events.

 Der Dirigent Andris Nelsons gab in Wien eine Einlage.

Der Dirigent Andris Nelsons gab in Wien eine Einlage.

Foto: dpa/Hans Punz

Kommt ein Dirigent mit Trompete auf die Bühne.

So könnte ein schlechter Witz über einen vergesslichen älteren Kapellmeister beginnen, der statt seines Taktstocks das Blasinstrument seines Enkels mit ins Konzert gebracht hat.

In Wahrheit hat sich diese Situation soeben im ehrwürdigen Wiener Musikvereinssaal zugetragen, wo der lettische Stardirigent Andris Nelsons das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker dirigierte. Der Künstler ist gelernter Trompeter und hat daheim in Riga im Orchester gespielt. Und jetzt blies er vor erlauchten Zuhörern (die Philharmoniker eingeschlossen) das nicht ganz untückische Trompetensignal aus dem „Postillon Galop“ des dänischen Komponisten Hans Christian Lumbye. Und er blies es famos.

Warum wir heute diese zwei Wochen alte Begebenheit erzählen? Weil jetzt die CD dieses Neujahrskonzerts erschienen ist. So schnell war die Sony noch nie. Zwei Wochen nach Konzert schon auf dem Markt, das ist eine Ansage an das offenbar als löchrig eingeschätzte Erinnerungsvermögen der Kundschaft. Wohl wahr, was interessiert einen denn noch das Neujahrskonzert, wenn draußen die kalte Sophie, die letzte der Eisheiligen, Namenstag feiert (15. Mai)?

Es war ein außerordentlich gelungenes, unbedingt konservierenswertes Neujahrskonzert, dem man nun gern noch einmal nachlauscht. Nelsons trifft die wienerische Mischung aus Schmiss und Schlendern ausgezeichnet, hier tuckert er gemütlich mit dem Fiaker durch die Partituren, dort lässt er es mit „Knall und Fall“ donnern. So heißt eine Polka von Eduard Strauß, die Nelsons ins Programm geschmuggelt hat. Insgesamt hält es neun Stücke von Ziehrer, Hellmesberger, Beethoven und den diversen Sträußen bereit, die noch nie in einem Wiener Neujahrskonzert erklungen sind. Das dürfte Rekord sein.

Nelsons hatte vorab eine Art intellektuelle Verzichtserklärung abgegeben: Die Wiener Philharmoniker seien in dieser Musik dermaßen beheimatet, da wolle er nicht anfangen, ihnen etwas beibringen zu wollen. So kann man sich das Leben natürlich sehr angenehm gestalten. Das Orchester lässt sich nicht lumpen und zeigt, was es kann. Und das ist gewaltig viel. Trotzdem hört man an einigen Stellen (etwa im Walzer „An der schönen blauen Donau“), wie Nelsons eine Art Bluttransfusion nach Wiener Art gelungen ist.

Wirklich innovativ, ja unfassbar wäre es natürlich, wenn die Wiener Philharmoniker den Live-Mitschnitt des Neujahrskonzerts bereits zwei Wochen vorher veröffentlichen würden. Dann könnten die Hörer schon unter dem weihnachtlichen Tannenbaum wissen, wie stark ihr Beifall zum Jahreswechsel ausfallen wird. Wer weiß, vielleicht traut sich das Eliteorchester eine solch mutige Reise auf der gekrümmten Zeitachse irgendwann zu. Dann könnte niemand mehr sagen, die Wiener Philharmoniker seien ein etwas gestriger Klangkörper.

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