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Das Faszinierende bei Mahler

Wien Still und heimlich hat sich das Mahler-Jahr in das Schumann- und Chopin-Jahr eingeklinkt, und je häufiger man zu Gustav Mahlers 150. Geburtstag diesem großen Anderen der Musik begegnet, desto stärker ist der Nervenkitzel, wenn wir Mahler auf CD auflegen oder, besser noch, ihm im Konzert begegnen. Für die Symphonik-Fans ist Mahler das, was Wagner für Opernfreaks ist: eine Droge. Mahlers Musik ist existenziell. Sie rührt an die Urgründe, auch unsere eigenen. Und stets hat man das Gefühl, diese Sinfonien würden in dem Moment, da sie erklingen, erst erfunden.

Mahler – 1860 bis 1911, zehn Symphonien, eine unvollendet, viele Lieder, etwas Kammermusik – ist in allem, was er tut und schreibt, unmittelbar und maßlos. Er ist lauter als die meisten Komponisten vor ihm (unter den chorischen Pfingsthymnus und unter das Trompetengeschmetter in der "Sinfonie der Tausend" duckt man sich), aber er ist auch leiser als alle (etwa im Paradiesgeflöt der Vierten). Alle Ökonomie im Sinne klassischer Gezirkeltheit schafft Mahler ab; er hortet Hundertschaften auf der Bühne und beschäftigt auch Herdenglocken, Hammer und Kinderchöre. Beim Hören bricht etwas in uns auf und durch, das uns rührt. Aber was hat der Komponist damit zu tun? Anders gefragt: Was ist bei ihm autobiografischer Ausfluss, was weher Gruß der Erinnerung? Was ist empfunden, was geborgt? Also: Was ist das Mahlerische bei Gustav Mahler?

Des Meisters Kern ist wohl, dass Mahler fortwährend dekonstruiert. Er bricht die Welt ins Liedhafte herunter, er fleddert die Archive, intoniert die Gesänge der Synagoge, er spielt mit den Zitaten aus seiner Privatwelt – und dennoch sind diese Montagen immer tiefernst, sehr eigentlich. Das Kleinste wird zum Welterbe. Wie Mahler schon in der 1. Symphonie die Melodie von "Frère Jacques" ins Moll wandelt und vom Kontrabass beginnen lässt: Das ist als Eintritt in den Olymp der Symphoniker so bannend neu, dass einem die Worte fehlen.

Daneben hat Mahler, der Böhme in Wien, ein entspanntes, ja naives Verhältnis zum Schönen. Manches klingt einfach gottvoll in seiner ruhigen Schlichtheit, und man denkt ebenso glücklich wie beunruhigt: Das kann ja nicht wahr sein! Ist's Ironie? Nun, bei Mahler wird alles scheinbar Ironische authentisch: Alles so echt hier. Und so majestätisch.

Das Finale der Dritten ist feierlich, aber es ist keine katholische Feierlichkeit im Sinne Anton Bruckners. Der hatte immer den lieben Gott im Kopf. Mahler hat sein Kinderzimmer im Herzen und das Panorama in Toblach (Südtirol) vor Augen, wo sein Komponierhäuschen steht. Und er hat diese ungestillte Sehnsucht nach herzlichen Verhältnissen, die er selbst, ein linkischer Mann, nie bewerkstelligen kann. Mahler ist vermutlich der einzige Komponist, bei dem man die geistige Gegenwart Sigmund Freuds lebenslang spürt.

Mahler macht uns unsicher. Fällt uns ein Komponist ein, bei dem wir am Ausgang eines symphonischen Unternehmens so zweifeln wie bei ihm? Befürchtet man im Finale der Ersten nicht immer, dass diese sieghaften Fanfarenwendeltreppen ausfallen? Dieser Moment ist übrigens ein wunderbarer Beweis für Mahlers Können. Er ist ja ein erstklassiger Dirigent und Direktor diverser Opernhäuser; er hat das Innere des Orchesterklangs im Ohr, mit ihm spielt er. Mahler beherrscht das Orchester perfekt. Berlioz erfand die Alchemie des Klangs. Mahler reizt den Klang aus, indem er alle im Orchester alles können lässt, gerne auch gleichzeitig.

Der Praktiker Mahler schreibt immer Musik, in der es drunter und drüber geht, schreibt eine verstörende Vielstimmigkeit, welche die Schmerzen spüren lässt, die Mahler beim Komponieren der letztmöglichen Romantik selbst empfindet. Danach kommt Schönberg. Mahler weiß es. Seine Neunte ist Aufschrei und Menetekel in einem. Als Abschied ist sie zum Heulen schön.

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