Vogel des Jahres 2023 Kleiner Vogel, ganz groß

Vogel des Jahres 2023 ist das Braunkehlchen. Hinter dem kleinen, unscheinbaren Piepmatz steht eine große Geschichte. Sie sollte den Menschen mehr zu denken geben, als dies bisher geschieht.

Ein Braunkehlchen in freier Natur.

Ein Braunkehlchen in freier Natur.

Foto: dpa/Patrick Pleul

Zugegeben, das Braunkehlchen hat bislang unser Aufmerksamkeitsradar glatt unterflogen. Das Rotkehlchen hatte es da besser. Rot ist auffälliger als Braun und in der Modewelt wie auch als politische Couleur beliebter. Nun aber ist das Braunkehlchen zum Vogel des Jahres 2023 gewählt worden, und irgendwie hat uns diese Meldung diesmal seltsam angerührt, obwohl die Wahl doch jedes Jahr stattfindet. Vielleicht, weil unsere Wahrnehmung, was sich am Himmel so alles tut, zuletzt vor allem von bedrückenden Nachrichten über Kampfdrohnen, Kampfhubschrauber, Kampfjets oder Raketen geprägt war?

Dass sich jetzt das Braunkehlchen gegen den Feldsperling, das Teichhuhn, den Trauerschnäpper und sogar gegen den Neuntöter durchgesetzt hat, vermag in Zeiten wie diesen eine sagenhafte Faszination zu entfalten. Eine Botschaft zum dankbaren Durchatmen. Ein Stück alte Welt, in welcher Bernhard Grzimek in der Reihe „Ein Platz für Tiere“ abends im ersten Programm manches possierliche Tierchen vorzustellen pflegte. Vergangenheit, natürlich wie immer von Erinnerung verklärt, die aber nun irgendwie beruhigend-vertraut in diese beunruhigende Gegenwart hineinragt.

Ein „wirklich sehr nettes Vögelchen“, nennt denn auch Martin Rümmler, Vogelschutzexperte beim Naturschutzbund Deutschland (Nabu), den aktuellen Gewinner. Das Braunkehlchen werde zwar von Weitem leicht übersehen. Doch aus der Nähe besteche es mit seinem namensgebenden rotbraunen Brustgefieder und der markanten weißen Braue. Die hat ihm übrigens auch den Zweitnamen „Wiesenclown“ eingebracht.

Nun ist es nicht so, dass der Wiesenclown als Spaßvogel durchgehen könnte, denn viel zu lachen hat Braunkehlchen derzeit eigentlich nicht, taucht es doch auf der Roten Liste der Brutvögel in der Kategorie zwei auf – stark gefährdet. „Das liegt vor allem an seinem Lebensraum, es ist angewiesen auf artenreiche Wiesen mit ausreichend Unterwuchs zum Nisten und hohen Stauden für die Nahrungsaufnahme“, so Rümmler. Doch genau solche Wiesen werden immer seltener. Hinzu kommt, dass das Braunkehlchen ein Bodenbrüter ist. Seine Nester befinden sich also in ständiger Bedrohung durch Fressfeinde, vor allem aber auch Menschen und ihre Mähmaschinen. Zwar töten auch herumstreunende Hauskatzen in Deutschland schätzungsweise bis zu 30 Millionen Wildvögel pro Jahr, aber dafür sind letztlich auch diejenigen verantwortlich, die sie halten.

Damit sind wir mittendrin in diesem spannenden Thema, das wir wie das Braunkehlchen bislang allenfalls am Rande wahrgenommen haben: Anhand merkwürdiger Zeitgenossen etwa, die Tauben in den Städten füttern, obwohl die Verwaltung einige Anstrengungen unternimmt, damit sich diese Vögel, die sich bis zu zehn Mal im Jahr vermehren, nicht noch weiter auf Plätzen und Gebäuden ausbreiten. Oder durch die grünen und gelben Papageien aus den Tropen, die sich hierzulande inzwischen tierisch wohlfühlen, wie zum Beispiel ganze Scharen von Halsbandsittichen im Zentrum von Düsseldorf und Köln. Nicht zuletzt durch die Stare, die – Fischen gleich – faszinierend in riesigen Schwärmen zu einem Ruheplatz unterwegs sind.

Dabei sind Vögel doch immer noch die weltweit wohl am weitesten verbreitete Tierklasse. Sie leben auf allen Kontinenten, und das schon seit mindestens 150 Millionen Jahren. 10.752 Arten sind bekannt, freilich vor allem denjenigen, die sich wissenschaftlich damit beschäftigen. Und auch das wissen längst nicht alle: Die nächsten Verwandten der Vögel sind Krokodile, und beide zählen zu den letzten noch lebenden Vertretern der Dinosaurier.

Dass die gefiederten Überbleibsel aus der Zeit des Erdmittelalters heute ungleich beliebter sind als die geschuppten, wundert nicht, verfügen Vögel doch über eine Eigenschaft, welche die Menschen seit jeher an ihnen bewundern: die Fähigkeit, aus eigener Kraft zu fliegen, mit einer Spannweite bis zu drei Metern und Geschwindigkeiten bis zu 300 km/h – der Inbegriff grenzenloser Freiheit. Der Mauersegler beispielsweise verbringt zehn Monate im Jahr ausschließlich in der Luft, er schläft sogar im Flug.

Grenzenlose Freiheit indes bleibt nie frei von Risiken. Wer im Mittelalter für vogelfrei erklärt wurde, besaß keinerlei Schutzrechte mehr. Frei wie ein Vogel fühlte sich das gewiss nicht an. Und ist es nicht so, dass keinem anderen Lebewesen so prachtvolle Käfige gebaut werden wie den Vögeln, die man gefangen hält, um ihre außergewöhnliche Schönheit ausgiebig bewundern zu können?

Jonathan Franzen, der nicht nur ein begnadeter Schriftsteller, sondern auch ein engagierter Vogelschützer ist, stellt in seinem Essayband „Das Ende vom Ende der Welt" folgende These auf: „Ein Grund, warum Wildvögel wichtig sind – uns wichtig sein sollten – ist der, dass sie unsere letzte, beste Verbindung zu einer natürlichen Welt darstellen, die ansonsten im Schwinden begriffen ist." Auch vom Braunkehlchen etwa existieren heute noch halb so viele Vertreter wie vor 40 Jahren.

Es ist jene Umdrehung der natürlichen Welt, mit der es Alfred Hitchcock in seinem Meisterwerk „Die Vögel“ schon 1963 gelingt, eine beklemmende Endzeitstimmung zu schaffen: Zwar wird keine explizierte Erklärung dafür geliefert, warum Vögel darin massenhaft Menschen angreifen und sogar töten, doch wurde das Spätwerk des britischen Filmregisseurs auch dahingehend interpretiert, dass es sich um Rache für die Vergehen der Menschheit an den Geschöpfen der Natur handeln könnte. Tatsächlich hat es Fälle gegeben, in denen Vögel in großer Zahl Häuser attackierten und Stromleitungen zerstörten. Die Ursache aber war, wie sich erst viele Jahre später herausstellte, ein von der Kieselalge hergestelltes Nervengift, das in den Organismus der Tiere gelangt war.

Ebenso bizarr erscheint die Geschichte, in der Spatzen zu Volksfeinden eines Landes erklärt und millionenfach vernichtet wurden. Im Unterschied zu Hitchcocks Drehbuch ist sie jedoch wahr. 1958 rief Staatspräsident Mao Tse-tung in China eine Kampagne zur Ausrottung der Feldsperlinge aus, weil sie angeblich die Saat wegfraßen. Die gesamte Bevölkerung des Riesenreichs ab dem Alter von fünf Jahren machte einige Tage lang nichts anderes, als mit Gongs und Blechgeschirr einen immensen Krach zu erzeugen. Die Vögel, immer wieder aufgescheucht oder an der Landung gehindert, starben an Erschöpfung. Natürlich gab es neben Körnerfressern eine ungeheure Zahl an Insektenvertilgern, die der mörderischen Aktion zum Opfer fielen – mit der Folge, dass die Ernteausfälle durch einen dramatischen Anstieg von Getreideschädlingen umso heftiger ausfielen.

All das wäre uns ohne den Vogel des Jahres 2023 beinahe entgangen. Danke, kleines Braunkehlchen!

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