Cannes feiert Regisseur Haneke

Vor drei Jahren gewann Michael Haneke in Cannes die Goldene Palme für seinen Film "Das weiße Band". Nun wird der 70-jährige Regisseur aus Österreich bei dem Filmfest an der Croisette schon als Favorit gehandelt – für sein bewegendes Drama "Amour" (Liebe).

Cannes Trotz der versammelten Regiestars und der vielseitigen Frauenfiguren fehlte dem bisherigen Festival ein wirklich überragender Film – bis Michael Haneke kam. Der österreichische Regisseur ist mit seinen Filmen über die Vergletscherung der Gefühle seit Urzeiten auf den Wettbewerb in Cannes abonniert. 2009 hatte er mit "Das weiße Band" die Goldene Palme gewonnen. An einem stürmischen Sonntagmorgen zeigte er gestern einen für ihn ungewöhnlich gefühlvollen Film, der schlicht und ergreifend "Amour" (Liebe) heißt und in wenigen Pinselstrichen die Facetten der Liebe erforscht.

Mit präzisen, langen Einstellungen taucht Haneke ein in den Alltag von Georges und Anne (Emmanuelle Riva), eines achtzigjährigen Paares, das nach dem Hirnschlag Annes auf die Probe gestellt wird. Jean-Louis Trintignant spielt nach langer Leinwand-Abstinenz einen misanthropischen ehemaligen Musiklehrer, der sich um seine halbseitig gelähmte Frau kümmert. Er stößt dabei an die Grenzen des Erträglichen und trifft eine – wie so oft bei Haneke – radikale Entscheidung. Die Spannung, die schon "Das weiße Band" beherrschte, liegt diesmal in Hanekes subtiler Beobachtung der Auswirkungen des Alterns: das Abschiednehmen von der geistigen und körperlichen Zweisamkeit, letzte komplizenhafte Momente und die innere Vorbereitung auf das Sterben.

In dem intensiven, beinahe minimalistischen Kammerspiel konzentriert sich Haneke ganz auf die Intimität eines Paares. Hinter den starken Emotionen liegt dabei die gesellschaftliche Brisanz über die Art des Sterbens und ihrer Auswirkung auf die Überlebenden. Seine zurückgenommene und kraftvolle Regie lässt dabei viele verstörende Fragen offen. Sie werden ihm sicher wieder einen Preis in Cannes bescheren, auch wenn Jacques Audiard, David Cronenberg, Abbas Kiarostami oder Jeff Nichols ihn um die zweite Palme bringen können.

Wie die rüstigen und braungebrannten Rentnerinnen von der Croisette kommt auch die kokette Festival-Tante von Cannes in die Jahre, aber sie bewahrt sich ihre Jugend und Beweglichkeit durch den ständigen Spagat: Gerade hier geben sich auch dieses Jahr amüsanter Kommerz wie "Madagascar 3", Genre-Trash wie Dario Argentos "Dracula" und anspruchsvolle Kunstmelodramen aus entlegenen Kino-Regionen ein erfrischendes Stelldichein. Zum 65. Geburtstag des Festivals gehen in diesem Jahr vor allem männliche Altmeister und ehemalige Palmen-Gewinner wie Abbas Kiarostami, Thomas Vinterberg und Ken Loach in den Wettbewerb und das unter dem Argusauge des Jury-Präsidenten Nanni Moretti. Auch viele "unabhängige" amerikanische Filme von Lee Daniels, Jeff Nichols oder Andrew Dominik fanden den Weg an die Croisette.

Wes Andersons "Moonrise Kingdom" hatte das Festival noch kindlich poetisch eröffnet, aber dann machten sich tragische Geschichten breit. Da unter den 22 Wettkämpfern um die Goldene Palme keine Frau an den Start ging, wurde dem künstlerischen Leiter Thierry Fremaux organisiertes Machotum vorgeworfen. Aber schon nach einigen Tagen war klar, dass vor allem die starken Frauenfiguren die Leinwand beherrschten. Auch wenn sie von den männlichen Regisseuren dafür durch das tiefe Tal des Leidens geschickt wurden. Allen voran der Männerregisseur Jacques Audiard, der vor zwei Jahren mit "Der Prophet" nur knapp die Palme verpasst hatte. In seinem vom Publikum bejubelten Melodram "Rust and Bones" forciert er die Begegnung der Extreme: Hier Stéphanie, die feenhafte Dompteurin von Killerwalen, dort der Testosteron getriebene Boxer Ali: Marion Cotillard empfiehlt sich in diesem Wechselspiel für den Preis als beste Darstellerin – aber erst, als sie nach der Attacke eines Mörderwals an den Rollstuhl gefesselt ist, neue Perspektiven suchen muss und mit ihrer Liebe den rauhen Ali zu einem anderen Menschen macht.

Und Fatih Akin? Der machte sich in der Dokumentation "Müll im Garten Eden" zu naiv zum Öko-Anwalt entrechteter Bewohner eines türkischen Dorfes, denen eine Mülldeponie das Leben vergällt.

Bilder von den Filmfestspielen unter www.rp-online.de/kultur

(RP)
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