Düsseldorf Büchners Vater über den Freitod mit Nadeln

Düsseldorf · Im Jubiläumsjahr Georg Büchners (1813–1837) wurde eine medizinische Schrift seines Vaters entdecktt.

Weil eine literarische Entdeckung im großen Jubiläumsjahr des Dichters mit seinem überschaubar gebliebenen Gesamtwerk niemand erwarten durfte, ist diese kleine Schrift durchaus eine Sensation. Sie bleibt es, auch wenn sie nicht von Georg Büchner (18131837) selbst stammt, sondern von Ernst Büchner, seinem Vater, der kein Schriftsteller, sondern Arzt, aber doch ein liberaler Geist gewesen ist. Und damit beginnt unser eigenartiges Leseabenteuer, indem wir uns Georg Büchners Werk und vor allem seinen Jugendjahren jetzt durch einen Seiteneingang nähern und dabei auch manch skurriler Episode begegnen können.

Ernst Büchners Schrift "Versuchter Selbstmord durch Verschlucken von Stricknadeln" von 1823 ist ein Büchlein über diverse absonderliche medizinische Fälle, die der frühere Regiments-Chirurg und spätere Obermedizinalrat akribisch dokumentierte. Als Beitrag zur Forschung sollten sie wohl verstanden werden. Dementsprechend sachlich ist ihr Ton; es geht um irgendeine Exaktheit, so skurril und mitunter befremdend sie für uns heute auch wirken mag.

Wie gleich beim ersten Fall, das heißt seiner ersten Patientin, die Catharina D. genannt wird, 18 Jahre alt und für Büchner von Beginn an mehr ein Versuchsobjekt ist. Denn die junge Frau bittet, dass man ihr den Magen aufschneide, da sie in selbstmörderischer Absicht "circa dreißig Stück Stecknadeln" verschluckt habe. Büchner glaubt ihr nicht und zweifelt auch noch, als sie ausgeschiedene, stark oxidierte Nadeln vorweist. In dieser Krankengeschichte spielen viele Faktoren eine Rolle – auch Depressionen der Frau.

Bei einem zweiten Versuch will sie gar 300 Nadeln verschluckt haben, und als auch diese ohne großen Schaden den Körper verlassen, will er der ganzen Sache auf den Grund gehen und willigt in ein gespenstisches Experiment ein: Sechs Tage lang wird Catharina D. in ein Zimmerchen eingesperrt, um nach der Einnahme weiterer Nadeln – Steck-, Näh- und Stopfnadeln in dokumentierter Dosierung – Stuhlgang, Krämpfe und Schmerzen genau beobachten zu können. Die junge Frau ist jetzt kein Patient mehr, sie ist ein Versuchskaninchen. Und Ernst Büchner scheut sich nicht, hingebungsvoll niederzuschreiben, dass es im Sinne der Aufklärung dienlich sei, irgendwann mit der Frau am Sektionstisch erneut zusammenzutreffen.

Doch damit ist der Fall noch nicht erledigt. Dann tatsächlich besorgt sich Büchner ein anderes Versuchskaninchen; das ist ein kerngesunder Dachshund, dem nun ebenfalls Nadeln verabreicht werden und der nach ein paar Tagen – wie es in einem Nebensatz lapidar heißt – erschlagen wird, damit sofort seine Bauchhöhle geöffnet werde. So konnte Büchner die "peristaltischen Bewegungen des ganzen Darmkanals noch mehrere Minuten lang recht stark" sehen.

Dieses kleine Buch wird der Arzt 1836 seinem Sohn Georg nach Zürich schicken. Der – erst 23 Jahre alt – wird acht Wochen später sterben. Unvollendet muss so das dramatische Fragment "Woyzeck" bleiben mit der berühmten Szene, in der am Titelhelden ein brutales Erbsen-Experiment exekutiert wird. Drei Monate verordnet der Arzt ihm nur Erbsen, um in der Untersuchung des Harns neue Erkenntnisse zu gewinnen. Georg Büchners ätzende Kritik der experimentiersüchtig gewordenen Wissenschaft geht zurück auf Erlebnisse und Erfahrungen in der eigenen Familie.

(RP)
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