Neues Buch von Wilhelm Genazino Der Autor der wahren Empfindung

Frankfurt/M. · Wenn der Schriftsteller Wilhelm Genazino unterwegs war, notierte er schräge Beobachtungen und wilde Einfälle. Bei seinem Tod hinterließ er 7000 Seiten an Aufzeichnungen. Der Band „Der Traum des Beobachters“ präsentiert nun Höhepunkte aus dieser literarischen Schatzkiste.

Wilhelm Genazino am Duisburger Hauptbahnhof.

Wilhelm Genazino am Duisburger Hauptbahnhof.

Foto: Krebs, Andreas (kan)

Wilhelm Genazino war zwar Schriftsteller, aber zugleich auch König der Zweitberufe, und einer der besten Nebenjobs, in denen er sich versuchen wollte, war der als Schuhtester. 1981 ist das gewesen, die Firma Bata suchte damals per Annonce Menschen, die ausprobieren sollten, wie es sich so liefe in ihren Produkten. Sie sollten die Schuhe „strapazieren“, gerne über drei Wochen hinweg, und danach Fragen beantworten. „Keine Angst, wir verlangen nichts Meilenweites“, lautete das Motto. Genazino sollte ein Modell aus der Kollektion „Softie 2000“ ausprobieren, er hätte dafür 100 D-Mark bekommen, außerdem eine „Schuh-Tester-Urkunde“. Trotz des verlockenden Angebots kam die Zusammenarbeit dann aber nicht zustande.

Diese Episode findet man in dem soeben erschienenen Band „Der Traum des Beobachters“, der eine Auswahl der Notizen und Aufzeichnungen des 2018 gestorben Flaneurs, Alltagsbestauners, Lebenslehrlings und Stoßseufzenden Wilhelm Genazino präsentiert. Die Herausgeber Jan Bürger und Friedhelm Marx haben sie aus 38 im Deutschen Literaturarchiv Marbach lagernden Leitz-Ordnern mit 7000 Seiten Material herausgefiltert. Genazino war ein besessener Notierer. In der Brusttasche des Hemdes trug er stets Zettelchen bei sich, und darauf kritzelte er, was ihm unterwegs so begegnete oder durch den Kopf diffundierte. Und das sind der in der Mehrzahl Wunderbarkeiten und komische Nebensächlichkeiten, an denen die meisten anderen vorbeigeschritten wären.

Dieses Buch funktioniert wie eine Pralinenpackung. Man schlägt es auf und findet Köstlichkeiten, und man will immer noch mehr davon. Genazinos Meisterschaft bestand darin, dem Gewöhnlichen kleine Epiphanien abzuringen, die Schönheit im Flüchtigen zu finden. Er destillierte daraus Aphorismen wie diese:

„Man interessiert sich nicht dafür, wie man von hinten aussieht.“

„Unser Körper liest immer mit, aber es ist nicht bekannt, was er versteht.“

„Das ganze Leben ein einziger großer Liebeskummer.“

„Im Innern wandre ich jeden Tag aus und bleibe dann doch zu Hause.“

„Ich möchte nicht schuld sein an dem, was ich sehe.“

„Als ich mich vollkommen leer fühlte, kaufte ich mir eine neue Zahnbürste.“

„Immer mal wieder der Eindruck, von meiner Kleidung verhöhnt zu werden.“

„Die Verlassenheit der Schuhe nachts im Flur.“

„Ich verstehe ein Problem erst oft dann, wenn ich mit dem Problem einen Spaziergang gemacht habe.“

Genazino war der lustvolle Abseitssteher der deutschen Literatur. Er arbeitete zunächst für Lokalzeitungen, war Redakteur der Satirezeitschrift „Pardon“, er holte mit fast 40 Jahren das Abitur nach und studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie in Frankfurt.Sein Mitte der 1960er-Jahre erschienener erster Roman fand nur wenige Leser; auf sich aufmerksam machte er erst 1977 mit der Trilogie um seinen lethargischen Helden Abschaffel. Durch jene drei Romane weht der Geist von Genazinos Hausheiligem Frank Kafka. Man findet darin Sätze wie diesen: „Abschaffel schaltete eine kleine Lampe ein, weil er das Gefühl vermeiden wollte, mit dem langsamen Dunklerwerden des Abends selbst zu verschwinden.“ Und man begegnet Figuren wie Abschaffels Freundin Dagmar, Mahndisponentin bei den Stadtwerken in Delmenhorst.

Der große Erfolg stellte sich erst 2001 ein, als Genazino im „Literarischen Quartett“ gerühmt wurde. Das Publikum erfreute sich an der Poesie von Titel wie „Die Ewigkeit dauert lang“, „Dann fliegt die Liebe zum Fenster raus“, „Etwas vom Grasbüschel“, „Die Obdachlosigkeit der Fische“ oder „Das Licht brennt ein Loch in den Tag“. Genazino war nun Bestsellerautor, 2004 bekam er den Georg-Büchner-Preis

Die Notizensammlung „Der Traum des Beobachters“ ist chronologisch geordnet. Jedes neue Jahr leiten die Herausgeber mit einem Abriss der Ereignisse ein, die die folgenden zwölf Monate prägen werden. Und sie verweisen auf die Werke, in die einige der Notate Eingang finden werden. So ist dieser Band zugleich Arbeitsbuch und Biografie eines Schriftstellers, dem es nie um Realismus gegangen ist, der über das Schauen und Erkennen des Abseitigen aber eben doch besonders wahrhaftig von seiner Zeit erzählte.

Helmut Böttiger widmete Genazino in seiner Literaturgeschichte „Die Jahre der wahren Empfindung“ über die 1970er Jahre jüngst ein Kapitel. „Bei diesem Schriftsteller mischen sich auf wundersame Weise die Prägungen aus dieser Zeit“, schreibt er: „die Scham, sozial nicht vorzeigbare und wortlose Eltern zu haben, die Sehnsucht nach etwas Anderem, für das als einziger Halt die Literatur zur Verfügung zu stehen scheint, und die Fremdheit den selbstgewissen Machern aus dem Bürgertum gegenüber, die solch unsichere Streuner immer an den Rand verweisen.“ Genazinos Figuren sind Angestellte, die im Mantel beklommen dastehen und lieber die Hintertür nehmen. Sie sind Korrespondenten in den umglamourösen Ecken des Alltags. Einmal beschreibt Genazino einen Friseurbesuch, bei dem er in Klatschzeitschriften blättert: „Ich will einen Artikel über den Nachwuchs eines Königshauses lesen, die Überschrift lautet: Der erste Enkel ist da. Ich lese aus Versehen: der erste Ekel ist da. Dabei ekle ich mich nicht, glaube ich.“

Diese lakonischen Texte sind auch eine Übung in Melancholie. Als „laufende Selbstenthüllung des Lebens“ hat Genazino sie bezeichnet. Als „Prothese“, die ihm helfen sollten, falls seine größte Sorge Wirklichkeit werden würde, dass das Schreiben ihn verlassen könnte.

„Eigenartig herabsegelnde Blätter“, notiert er kurz vor seinem Tod. Es ist der letzte Satz in diesem Band. Und er wirkt wie ein Motto für diese Aufzeichnungen.

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