Plädoyer für eine Kulturtechnik Vorlesen ist kein Kinderkram

Düsseldorf · Am 17. November war bundesweiter Vorlesetag, aber heute sollte wieder einer sein. Und morgen. Und übermorgen. Denn es ist ein Ritual, das Geborgenheit und Harmonie schafft. Eins, von dem nicht nur Kinder profitieren.

  

 

Foto: shutterstock.com / Mutita Narkmuang

Wer seine Liebe zum Lesen an seine Kinder weitergeben will, kann einen fatalen Fehler machen: Ihnen unaufgefordert einfach ein paar Bücher auf den Tisch knallen nämlich. Das erzeugt eine ungesunde Erwartungshaltung, provoziert Unsicherheit, Unwillen, Widerstand. Lesen wird durch ein solch offensives Vorgehen zur lästigen Pflicht, Bücher zu etwas Ähnlichem wie Grünkohl oder Lebertran.

Wer seine Kinder zu früh mit Büchern alleine lässt, stellt ihnen einen Buchstabenberg vor die Nase, aus dem sie das Gold so mühsam herausschürfen müssen, dass sie schnell die Lust daran verlieren.

Das genaue Gegenteil von alledem passiert beim Vorlesen.

Damit kann man gar nicht früh genug anfangen: Unendlich fesselnd und beruhigend ist ja allein die Stimme von Mama oder Papa. Wie Zauberei erscheint den Kleinen, was da an ihre Ohren dringt. Und ein Stück weit ist es das ja auch. Tinte auf Papier wird zu Wörtern, und die werden zu Menschen, Tieren, Häusern, Handlungen vor unserem geistigen Auge, in Farbe und Full-HD.

Bei jedem Lesen passiert das, aber sehr viel detaillierter noch, wenn uns vorgelesen wird. Diese Kulturtechnik ist altmodisch, aber nicht überholt, sondern wichtiger denn je. Wer sich für ein paar Minuten konzentrieren und auf das zunächst vielleicht ungewohnte Erlebnis einlassen kann, wird belohnt mit einer analogen Atempause von der digitalen Dauer-Reizüberflutung.

Niemand ist zu schlecht zum Vorlesen

Nun ist nicht jeder zum Vorleser geboren. Wer seinen Text herunterleiert, überträgt seine eigene Lustlosigkeit auf den Zuhörer. Der bewertet für sich selbst unwillkürlich die Fragen: Wie flüssig wird gelesen? Wie gut variiert der Vorleser Tempo und Rhythmus, Lautstärke und Stimmhöhe, wie markant und treffend sind die Stimmen, die er den verschiedenen Figuren verpasst?

Die gute Nachricht aber ist: Das alles spielt nur eine untergeordnete Rolle. Niemand ist zu schlecht zum Vorlesen. Für Berührungsängste gibt es keinen Grund, erst recht nicht für Minderwertigkeitskomplexe gegenüber der übermächtigen Vorleser-Konkurrenz aus den Studios der Hörbuch-Hersteller.

Fürs Vorlesen braucht es eben keine Ausbildung bei der "Akademie für professionelles Sprechen" oder ähnlichen Instituten, dieses Minimum an Voraussetzungen ist ja das Schöne. Vorlesen kostet praktisch nichts, Stichwort Bücherei. Es braucht dazu nur etwas Zeit und Zuwendung.

Letzteres vor allem, denn Vorlesen geschieht nicht vom Pult oder einer Kanzel herab, auch nicht aus einem Ohrensessel gegenüber vom Zuhörer heraus. Wer vorliest, predigt nicht und präsentiert keinen Businessplan. Er will niemanden belehren oder überzeugen. Ziel des Vorlesens ist am Ende nicht die Vermittlung von Wissen, Sprachgefühl und Empathie, die Vergrößerung von Fantasie und Wortschatz. Das sind bloß Nebeneffekte.

Nebeneffekte allerdings, die die Stiftung Lesen naturgemäß betont bei der Vorstellung ihrer jährlich neu aufgelegten Studien, die - Überraschung! - nahelegen, dass Kinder, denen vorgelesen wird, lieber in die Schule gehen. Und dort auch neugieriger und konzentrierter sind, pünktlicher und ordentlicher, vernünftiger und verlässlicher, aber auch fantasievoller und spontaner. Weshalb sie auch bessere Noten schreiben. Sensibler und zugleich selbstbewusster und mutiger seien die "Vorlese-Kinder" bei alledem, sozialer, musikalischer und sogar sportlicher noch dazu.

Statistiker betonen dazu: "Korrelation ist nicht Kausalität" - will sagen: Entsprechende Zusammenhänge mag es geben; dass das Vorlesen all das bewirkt, lässt sich aus den überschaubaren Daten nicht herauslesen.

Vorlesen ist ein Ritual, das wie nebenbei Nähe, Vertrautheit und Geborgenheit schafft

Völlig unbestritten und ohnehin viel wichtiger ist indes: Wer vorliest, schafft eine Nische im Alltag für zwei (oder mehr) Menschen, ein Ritual. Und schafft wie nebenbei Nähe, Vertrautheit und Geborgenheit.

Das leuchtet jedem ein, der sieht, wie schnell Kinder die Scheu auch vor völlig fremden Vorlesern verlieren, wie sie den Kreis um ihn immer enger ziehen, immer weiter aufrücken. Bis der Vorleser Mal um Mal Kinderhaare aus dem Weg streichen muss, die sich zwischen seine Augen und das Buch verirren.

Diese Nähe aber wünschen sich nicht nur Kinder. Und mit guten Geschichten kann man auch bei Erwachsenen punkten, um ihrer selbst willen einerseits, aber auch, weil sich daraus fast automatisch Gespräche ergeben über Gott und die Welt. "Geschichten geben mögliche Antworten auf viele Fragen des Lebens, sie erklären die Welt, helfen sie zu strukturieren und zu hinterfragen", sagt Stephanie Jentgens, Literaturexpertin an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW in Remscheid. Und wer Geschichten miteinander teile, teile auch Gedanken.

Dieser Austausch bleibt aus, wenn jeder nur auf sein Smartphone starrt, in die eigene Lieblingsserie vertieft ist oder eben auch in das eigene Buch.

Deshalb ist es an der Zeit nicht nur für die Frage, weshalb eigentlich Erwachsene einander nicht viel öfter vorlesen, sondern auch für den Appell: Tut es, liebe Erwachsene! Liebe Geschwister, liebe beste Freundinnen, liebe Partner: Lest einander vor! Überwindet das anfängliche diffuse Schamgefühl, dem anderen zuliebe. Zum Einstieg bietet sich natürlich ein Buch an, das Vorleser und Zuhörer gleichermaßen mögen. Fortgeschrittenen eröffnet sich die Chance, das bislang vielleicht kritisch beäugte Lieblingsbuch ihres Gegenübers kennen- und vielleicht sogar schätzen zu lernen. Konfrontationstherapie quasi.

Vorlesen schafft Glück ohne Nebenwirkungen. Wer vorgelesen bekommt, darf Kind sein und seiner Fantasie Freiraum lassen. Wie beim Bauen mit Lego, bloß dass man nicht mal Steine braucht. Weil alles im Kopf entsteht. Im Herz bleibt derweil ein wärmendes Gefühl zurück: Das war nur für mich.

(tojo)
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