Rezension Und was soll der Titel jetzt bedeuten?

Düsseldorf · Dass Yasmina Reza ihre Wurzeln im Theater hat, muss man als Leser eigentlich nicht wissen. Auch ihr Privatleben und die Leute mit denen sie sich umgibt, sollten eigentlich nebensächlich sein. Aber eine der treibenden Kräfte beim Lesen ist dann doch die Frage, wie viel Einblick ihr neuester Roman "Glücklich die Glücklichen" in die Welt der Pariser Oberschicht und Reza selbst denn wirklich erlaubt.

 Carsten Dohr studiert Anglistik und Germanistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Carsten Dohr studiert Anglistik und Germanistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Foto: Carsten Dohr

Keine Autobiographie, aber doch inspiriert vom wirklich wahren Leben, werden hier in 21 Kapiteln aus den Perspektiven von beinahe genauso vielen Figuren, mehr oder minder zusammenhängende Episoden aus dem Leben von niederschmetternd mondänen Menschen erzählt. Nicht nur das erste Kapitel wird Freunden von Reza oder Roman Polanski auch gleich an den "Gott des Gemetzels" erinnern — auch hier wird sehr schnell klar, dass keine der Figuren eingestehen oder sagen möchte, was sie eigentlich will, ja nicht einmal sich selbst gegenüber. Es geht um das Unausgesprochene, das Unterdrücke. Selbst in ihrem Kopf wollen oder können manche der Figuren ihre inneren Dämonen nicht konfrontieren, und zögern lieber den ganz großen Knall hinaus — leben die Lüge oder das stille Elend lieber einen weiteren Tag.

Für wen das jetzt eine zu vage Zusammenfassung der Geschichte ist, sollte lieber gleich aufhören zu lesen, denn "Glücklich die Glücklichen" ist nicht nur eine Art Querschnitt der Conditio Humana der Pariser Oberschicht, es ist genauso clever narrativ konstruiert wie das wahre Leben: Je länger der Leser Mäuschen in den Köpfen der Figuren spielt, desto klarer wird das Netz, das sie alle verbindet, und desto offensichtlicher wird die Trivialität der zugrunde liegenden Verbindungen. Der Onkologe Doktor Chemla zum Beispiel ist ein Genie, was erklären könnte warum rein zufällig alle bedeutenden Figuren der Pariser Oberschicht seine Patienten sind. So spannend die Einblicke in die Abgründe seine Person und Psyche, die wir in seinen fünf Minuten im Rampenlicht auch gewinnen, schaffen sie es nur für den Moment zu existieren: Sein Kapitel ist, genau wie seine Persönlichkeit und die vieler anderer Figuren auch, eine Insel; Oder eher wie eine Touristenführung, denn die Kapitel sind oft kürzer als zehn Seiten und prügeln den Leser von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit, ohne ihn auch nur für eine Sekunde zu Ruhe kommen zu lassen.

Dabei schafft es Reza allerdings auf wunderbar unverkrampfte Weise jeder der Figuren eine eigene Stimme in ihrem Kopf zu geben. Der Verzicht auf konventionelle Zeichensetzung bei wörtlicher Rede Bedarf zwar unter Umständen einer kurzen Eingewöhnung, lässt die sehr lebendig und fragmentiert geschriebenen Dialoge aber wunderbar authentisch und flüssig herüberkommen. Jede Figur ist eine Persönlichkeit, und jedes Kapitel schafft es trotz seiner Kürze, einen herrlichen Einblick in die kaputten Psychen von Menschen zu geben, die alle nicht das haben, was sie am meisten begehren. Dabei ist das Spektrum der Neurotiker, der Bipolaren und der Nymphomanen so breit gestreut, dass sich wahrscheinlich jeder, ob nun gerne oder nicht, in wenigstens einer der Figuren wiederfinden kann. Schade ist nur, dass, wenn man denn endlich seine Stimme gefunden hat, das Schauspiel auch schon wieder vorbei ist und schnell zur nächsten Figur gesprungen wird.

Ultimativ kann "Glücklich die Glücklichen" leider nicht überzeugen. Zu oft erinnert die Geschichte an "Gott des Gemetzels", welches obendrein noch den Vorteil hat, nicht ständig hin und her zu springen, sondern sich auf die zwischenmenschlichen Konflikte seiner moderater gewählten vier Hauptfiguren zu konzentrieren. 80 Minuten lang ist ein Ausbruch des zwischenmenschlichen Elends für mich nicht nur zu ertragen, sondern auch zu genießen, aber 180 Seiten an mentalen und sozialen Verkehrsunfällen in Zeitlupe sind keine Genusslektüre.

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