Übersetzungen Ein Buch zieht in die Welt hinaus

Straelen · Elf Übersetzer arbeiten im Europäischen Übersetzer-Kollegium in Straelen am „Verzeichnis einiger Verluste“ von Judith Schalansky.

 Autorin Judith Schalansky (38, re.) mit den Übersetzerinnen und Übersetzern (von links) Prodpran Arunyig (Thailand), Naoko Hosoi (Japan), Undrakh Batsuuri (Mongolei) und Flavia Pantanella (Italien).

Autorin Judith Schalansky (38, re.) mit den Übersetzerinnen und Übersetzern (von links) Prodpran Arunyig (Thailand), Naoko Hosoi (Japan), Undrakh Batsuuri (Mongolei) und Flavia Pantanella (Italien).

Foto: Evers, Gottfried (eve)

Zwölf Uhr mittags in Straelen. Das Geläut der Kirche von
St. Peter und Paul macht der außerordentlichen Tageszeit alle Ehre, und während draußen direkt vor dem Fenster noch dazu ein Trecker vorbeirattert, wird drinnen – im Haus an der Kuhstraße – ein bisschen Weltliteratur fabriziert. Aus Schweden und Griechenland, England und China, aus Thailand und der Mongolei sind Übersetzer an den Niederrhein gekommen, um mit der Autorin eins der ungewöhnlichsten Bücher des vergangenen Jahres zu übersetzen: das „Verzeichnis einiger Verluste“ von Judith Schalansky. Vier Tage lang wird sie mit den Übersetzern am Buch arbeiten: Seite für Seite, Zeile für Zeile, und damit alle ganz genau wissen, wo man gerade ist, liegt allen Büchern ein kleines, papiernes Zeilen-Maßband bei.

Übersetzen ist Kopf- und Handarbeit – und diesmal richtig anstrengend. Denn in der 18. Werkstatt im Europäischen Übersetzer-Kollegium liegt ein Buch auf dem Tisch, das seine Faszination auch aus der mitunter kuriosen Sprache gewinnt und unsere Neugier weckt mit Dingen, die allesamt verschwunden sind, wenigstens abwesend oder verstummt.

Solche Verlustanzeigen können Chen Zao kaum irritieren: Für sie gehört das Abwesende zur Grundidee des Buddhismus. Es nütze nichts, etwas auf der Welt zu behalten; und auch der Körper sei letztlich bloß eine Hülle, sagt die Übersetzerin aus China. Das kennen wir von der unsterblichen Seele im Christentum, so Schalansky. Nicht ganz, so Chen Zao, denn eigentlich existiert rein gar nichts, denn alles ist Phantasie. Da fehlen selbst Schalansky für ein paar Sekunden die Worte. „Ist das cool“, sagt sie schließlich. Am Leben zu sein bedeutet, Verluste zu erfahren, heißt es im Buch. Nichts könne im Schreiben zurückgeholt, aber doch alles erfahrbar werden. Und vielleicht arbeiten genau deshalb Autorin und Übersetzer so konzentriert. Weil am ersten von vier Arbeitstagen alle noch frisch sind, beginnt die Gruppe mit dem schwierigen letzten Kapitel – auf Vorschlag Schalanskys. „Dann haben wir das Schlimmste hinter uns.“ Allein an diesen 15 Seiten haben sie neun Monate gearbeitet, an dem Bericht des Suhler Pfarrers und Freizeit-Astronomen Gottfried Adolf Kinau, der über die Erde und sein Leben vom Mond aus berichtet. Klingt verrückt und ist es auf spannende Weise auch. Außerdem ist es ein echter Übersetzungsbrocken. Was zum Beispiel ist mit dem Begriff des „Vormärz“? Deutsche Leser mögen die Zeitspanne vielleicht kennen, aber auch Chinesen? Das gibt Goverdien Hauth-Grubben zu bedenken, die nun nicht im fernen Osten, sondern im nahen Westen beheimatet ist, den Niederlanden. „Ich will keine Fußnoten“, sagt Schalansky. Und eigentlich sei es gar nicht so wichtig, genau zu wissen, was damit gemeint sei. Vielmehr ist es „ein literarisches Signal für eine bestimmte, vor allem vergangene Zeit“.

Dann wird es mühsam. Was ist ein „Augenmerk“, was ist der „Holzfrevel“? Und kurz vor Schluss des Kapitels wird eine Passage nur noch verständlich mit der zusätzlichen Lektüre der biblischen Offenbarung des Johannes. Moderatorin Renate Birkenhauer, die bei allen 18 Werkstattgesprächen schon dabei war, liest schnell die Passage vor, und ein endzeitliches Grauen macht sich für kurze Zeit im Bibliotheksraum breit. Zurück bleibt aber eine Ahnung davon, wie kränkend die Einsicht sein kann, sterblich zu sein.

Übersetzen ist Dichten und Denken. „Schreiben ist eine ungemein einsame Angelegenheit“, sagt uns Judith Schalansky am Rande. „Und jetzt erlebe ich, wie alle hier das Buch neu schreiben.“ Das geht auch gar nicht anders, es ist den Sprachen dieser Welt geschuldet. Wenn etwa Prodpran Arunyig für sich eine Lösung finden muss, wie sie das Erzähler-Ich im Buch übersetzt. Zwar gibt es im Thailändischen keine Zeitformen, dafür aber 20 verschiedene Ichs. Auch dabei werde deutlich, wie sehr unsere Sprachwelt unser Denken bestimme, sagt die Autorin.

Für die gemeinsame öffentliche Lesung am Abend hat sich die Gruppe ein kleines Spiel ausgedacht: Alle Übersetzer lesen in ihrer Sprache einen Satz aus dem „Verzeichnis einiger Verluste“ vor. Es ist wie bei „Stille Post“: Zunächst glaubt man dies und jenes noch wiederzuerkennen, am Ende klingt nur noch Fremdes im Ohr, was zuvor vertraut gewesen ist.

Ein literarisches Werk geht in die Welt hinaus, und Straelen ist sein Ausgangspunkt. Dort wird ersonnen und getextet, was in ein oder zwei Jahren in sehr fernen Ländern und fremden Kulturen manche Menschen lesen und beschäftigen wird. Zumindest in diesem kühnen Moment will man nicht so recht an Verluste glauben, die unwiederbringlich sein sollen.

Und dann gibt es auch noch eine Belohnung für alle Übersetzungs-Anstrengungen: kurz vor der Mittagspause mit einem der kürzesten Sätze des ganzen Buches: „Es war eine gute Zeit.“

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