Prinz Harrys Autobiografie in der Stilkritik Von Magie, Lüge, Wahrheit und der Kunst

Düsseldorf · „Reserve“, die Lebensbeichte von Prinz Harry, ist kunstvoll geschrieben und hat mit ihren Enthüllungen hohe Wellen geschlagen. Doch was ist daran Wahrheit, was Fiktion? Eine Stilkritik.

Die Autobiografie von Prinz Harry in Plastikverpackung vor dem Verkauf in einer Pariser Buchhandlung.

Die Autobiografie von Prinz Harry in Plastikverpackung vor dem Verkauf in einer Pariser Buchhandlung.

Foto: Thibault Camus / AP

Autobiografische Enthüllungen, intime Einblicke ins individuelle Dasein, Schilderungen aus eigener Anschauung enthalten ein verführerisches Versprechen: So ist es wirklich gewesen. Ihr erfahrt es aus erster Hand. Mir könnt ihr glauben.

Aber das stimmt nicht. Dieses Versprechen kann in den meisten Fällen nicht gehalten werden. Sich zu erinnern bedeutet nämlich keineswegs, die Vergangenheit so wiederherzustellen, wie sie sich tatsächlich zugetragen hat. In Erinnerung und Selbstreflexion steckt vielmehr der schöpferische Akt einer neuen Wahrnehmung: durchsetzt von Emotionen, subjektivem Empfinden, unvollendeten Annäherungen ans Ich. Was dabei herauskommt, ist oft mehr ein Standpunkt als die ganze Wahrheit.

Lebensbeichten sind demzufolge mit gebührender Distanz zu genießen, obwohl sie zugegebenermaßen durchaus zur spannenden Lektüre taugen. Wie etwa „Reserve“, das gerade erschienene, höchst unterhaltsame Skandalbuch von Prinz Harry. Und siehe da: Wer sich in die rund 500 Seiten vertieft, den beschleicht unweigerlich der Eindruck, es mit einer äußerst kunstvollen Inszenierung zu tun zu haben.

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Tatsächlich ist das Werk auf eine derart professionelle Weise verfasst, dass man glauben möchte, im Duke of Sussex stecke ein begnadeter Autor: minutiös die Schilderung der einzelnen Charaktere, betörend die Fülle an Details in der Beschreibung der Umgebung, atmosphärisch verdichtet die schicksalhaften Wendungen, erbarmungslos die Darstellung eines in Ritualen erstarrten Lebens. Das Buch schließt demütig mit den artigen Worten „Liebe Leserin, lieber Leser: Danke dafür, dass Sie meine Geschichte in meinen eigenen Worten erfahren wollten.“

Es sind fürwahr berührende Worte, die etwa den Moment erfassen, als der junge Prinz gerade vom Tod seiner Mutter erfahren hat und kurz darauf wie gewohnt das allmorgendliche Dudelsackspiel auf Schloss Balmoral ertönt: „Beim Dudelsack geht es nicht um die Melodie, sondern um den Klang. Diese Jahrtausende alten Instrumente sind so gebaut, dass sie das verstärken, was man bereits im Herzen trägt. Wenn man albern ist, macht einen der Dudelsack alberner. Wenn man wütend ist, bringt er das Blut noch rasender in Wallung. Und wenn man trauert, selbst wenn man zwölf Jahre alt ist und einem nicht bewusst ist, dass man trauert, vielleicht gerade dann, wenn man es nicht weiß, kann einen ein Dudelsack in den Wahnsinn treiben.“

Die Zeilen heben den dramatischen Augenblick auf eine poetische Ebene – eine Brechung, die ihre eigene magische Bitterkeit entfaltet. Für so etwas gebührt dem Verfasser Respekt. Es unterstreicht den Eindruck von Wahrhaftigkeit. Aber waren das wirklich die Worte des Prinzen? Komponiert hat „Reserve“ im Großen und Ganzen nicht Harry selbst, sondern nach allem, was man so hört, dessen Ghostwriter J. R. Moehringer, ein Spezialist für Geschichten von zornigen jungen Männern inmitten eines schmerzvollen Prozesses der Selbstfindung. Und wer könnte einen besseren Protagonisten abgeben als jener furiose Spross aus dem Hause Windsor?

Dass Prominente sich beim Verfassen ihrer Memoiren professioneller Hilfe bedienen, ist keineswegs unüblich. Im Falle von Harry und Moehringer aber trafen zwei aufeinander, in deren Persönlichkeit sich erstaunliche Parallelen finden. Kaputte Familien, schwierige Vater-Sohn-Beziehungen und eine enge Bindung an die Mutter sind das Leib-und-Magen-Thema des amerikanischen Journalisten, Autors und Pulitzer-Preisträgers Moehringer. Sein Roman „Tender Bar“ (von George Clooney mit Ben Affleck in der Hauptrolle verfilmt) spiegelt die eigenen problematischen Familienverhältnisse seiner Jugend wider. Moehringer hat darüber hinaus das Selbstporträt von Andre Agassi aufgeschrieben. „Open“ erschien im Jahre 2009 und stand wochenlang auf den Bestsellerlisten. Darin geht es – Überraschung! – um das gestörte Verhältnis des Tennis-Superstars zu dessen Vater, der ihn mit ganzer Härte zu sportlichen Höchstleistungen trieb und von dem er sich nur langsam emanzipieren konnte. Erlösung naht stets in Gestalt einer starken Frau: Bei Agassi ist es Steffi Graf, bei Harry Meghan Markle und in Moehringers eigener Geschichte seine Mutter.

Das verlorene Paradies der Kindheit, die Einsamkeit des Zweitgeborenen, der frühe Tod der Mutter, der Fluch der Berühmtheit, die Suche nach Liebe, die Kälte der Familie, deren angebliche Abneigung gegenüber der endlich gefundenen Traumfrau, schließlich der „Mexit“ – all das bietet reichlich Stoff für eine saftige Story mit einem Hauch von „Downton Abbey“. Und genau das ist die Autobiografie von Prinz Harry dann auch geworden, die sich wie ein klassischer Bildungsroman liest.

In dieser literarischen Gattung, die zur Zeit der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand, steht nicht etwa die schulische Bildung im Vordergrund, sondern das Heranreifen eines Individuums zur Persönlichkeit. Der Held wächst seelisch und geistig an seinen Erlebnissen und Krisen, um schließlich seinen Platz als autonomer Mensch zu finden.

Ob das bereits auf Prinz Harry zutrifft oder ob dieser nicht eher wie ein Kronzeuge in Erscheinung treten will, als Mann also, der im Gegenzug für seine Befreiung aus zweifelhafter Gesellschaft auf öffentliche Absolution hofft, mögen die Leserin und der Leser des Buchs am Ende selbst entscheiden.

Offen bleibt wie immer die Frage, wie viel Wahrheit dieses Werk tatsächlich enthält. Ein Teil der Antwort liegt vielleicht gerade in seiner ausgesprochen kunstvollen Form. Denn Kunst, das hat uns der Philosoph Theodor W. Adorno gelehrt, „ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein“.

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