Interview mit Robert Menasse "Ich sehe gern im Tragischen das Komische"

Düsseldorf · Der österreichische Autor Robert Menasse spricht im Interview mit unserer Redaktion über das Ende der Nationalstaaten im Allgemeinen und seinen Brüssel-Roman im Besonderen.

 Der Autor Robert Menasse auf der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2012.

Der Autor Robert Menasse auf der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2012.

Foto: dpa, bsc

Von der Kritik gefeiert und jetzt auch nominiert auf der Short List für den deutschen Buchpreis: "Die Hauptstadt" von Robert Menasse, einer der ersten, vor allem aber tiefgründigsten und humorvollsten Romane über die Europäische Union und das Treiben in Brüssel. Lange hat der 63-jährige und vielfach ausgezeichnete Österreicher für dieses wichtige Buch recherchiert.

Die Zeit des Recherchierens zu Ihrem Roman scheint eine sehr viel größere gewesen zu sein als die Zeit der Niederschrift.

Menasse Die Recherche war in der Tat relativ lang und aufwendig…

Was heißt das konkret?

Menasse Die Idee dazu habe ich irgendwann im Laufe des Jahres 2010 gehabt. Also bin ich nach Brüssel geflogen und hatte mir ein oder zwei Monate Zeit dafür genommen. Ich habe aber schnell gemerkt, dass das absolut nicht reicht. Als ich dann glaubte, genug Material zu haben und mit dem Schreiben beginnen zu können, merkte ich, dass ich immer in einen essayistischen Ton falle. Diesen Ton habe ich einfach nicht wegbekommen, weil ich wohl immer den Drang hatte, alles erklären zu müssen, was ich gelernt hatte.

Liegt das auch daran, dass schon so viele Essays über Europa geschrieben worden sind?

Menasse Ich habe natürlich viele dieser Beiträge gelesen. Doch ich habe bald gemerkt, dass das, was da geschrieben stand, kaum mit meinen Erfahrungen übereinstimmte. Also habe ich erst einmal auch Essays verfasst und den "Europäischen Landboten" geschrieben — eine Mischung aus Essay, Erzählung und Reportage. Meine Hoffnung war, das essayistische Schreiben damit aus meinen Kopf zu bekommen und für das Roman-Schreiben frei zu sein. Daraufhin habe ich so viele Einladungen zu Europa-Kongressen und Diskussionsveranstaltungen bekommen, dass ich plötzlich ununterbrochen Vorträge, Impulsreferate und Keynotes schreiben musste. Da kam dann zwischendurch das Gefühl: Ich schreibe den geplanten Roman nie mehr.

Was hat Sie wieder auf die Spur gebracht?

Menasse Meine Lektorin. Die hat nach dem Roman immer wieder gefragt und dann diesen Vorschlag gemacht: Die zwölf besten Vorträge werden in einem Buch veröffentlicht, da kann dann jeder nachlesen, was ich so denke. Damit wäre das abgehakt, und ich kann dann endlich am Roman weiterschreiben.

Die Lektorin scheint mir auch eine Pädagogin zu sein.

Menasse Bei Suhrkamp ist das praktisch die Zweitausbildung. Jedenfalls bin nach diesem Buch für ein weiteres dreiviertel Jahr nach Brüssel gegangen und habe intensiv an dem Roman gearbeitet. Im Frühjahr 2016 war der Roman fast fertig, als ich einen schweren Autounfall hatte und wochenlang im Spital war. Auch deshalb hat es schließlich lang gedauert.

Was haben Sie über und von Europa gelernt?

Menasse Europa kann nur vernünftig verstanden werden, wenn man gedanklich von den Regionen ausgeht. Es geht also um ein Europa der Regionen — unter dem Dach einer europäischen Republik.

Wie weit sind wir davon entfernt?

Menasse Das kann sich plötzlich sehr schnell entwickeln. Auch im August 1989 hätte niemand sagen können, wie lange noch die Berliner Mauer steht. Mein verständlicher Fehler war, lange Zeit zu glauben, man müsse die nationalen Demokratien verteidigen, solange die supranationale europäische so viele Defizite hat. In Brüssel habe ich aber gelernt, dass der Grund, warum es die demokratiepolitischen Defizite auf europäischer Ebene gibt, genau daran liegt, dass die Nationen ihre Systeme verteidigen und sich weigern, weitere Souveränitätsrechte an Europa abzutreten, weshalb die europäische Demokratie und die Gemeinschaftspolitik eben nie funktionieren können. Und solange der Europäische Rat — also die Wagenburg der Verteidigung nationaler Interessen — die mächtigste Institution und letzte Entscheidungsinstanz in der EU ist, solange wird es europapolitisch nicht besser werden. Seitdem mir das klar geworden ist, sage ich: Man darf die Nationaldemokratien nicht verteidigen, sondern muss sie bekämpfen. In letzter Konsequenz heißt das: Irgendwann werden die nationalen Parlamente zusperren müssen! Machen wir eine europäische Republik mit einem europäischen Parlamentarismus und gestärkten Landtagen! Subsidiarität kann nur regionale Subsidiarität heißen, nie nationale. Und europäische Demokratie kann nur heißen: Grundlage ist die Souveränität der europäischen Bürgerinnen und Bürger und nicht die Souveränität der Nationalstaaten. Jean Monnet hat einmal gesagt: Nationale Interessen sind nur die Interessen von nationalen Eliten, in deren Buchhaltung die Bürger am Ende ein Abschreibposten sind. Die Gründer waren gedanklich weiter als die Erben des Projekts.

War Ihr Europa- bzw. Brüssel-Roman eine schwierige Gratwanderung zwischen Wirklichkeit und Fiktion?

Menasse Zu wissen, was real passiert, war für mich unabdingbar, um eine Fiktion schreiben zu können. Ich hatte ursprünglich ja keine andere Idee als folgende: Es passiert in unserer Lebenszeit mit Europa eigentlich etwas Revolutionäres. Wir machen es uns aber gar nicht oder zu wenig bewusst — zum ersten Mal in der Geschichte werden in einer Stadt die Rahmenbedingungen eines ganzen Kontinents produziert. Und ich hab mir gedacht, dass dieses noch nie Dagewesene faszinierend ist. Dennoch nimmt es keiner als das wahr, was es eigentlich ist — nämlich eine schleichende politische Revolution. Und zugleich habe ich keine Vorstellung davon, wie das eigentlich funktioniert. Und bei drei Glas Wein habe ich eines Abends ins Kaminfeuer gestarrt und mir gesagt: Du gehst jetzt nach Brüssel. Und dann habe ich mir gedacht: Es wäre toll, wenn man es erzählen könnte.

Ist "Die Hauptstadt" in diesem Sinne ein Epochenroman?

Menasse Die Romane, die mich am meisten geprägt haben, sind die, die eine Epoche erzählen konnten oder zumindest das Ende einer Epoche — wie etwa bei Fontane oder Thomas Mann. Wenn man deren Bücher liest, versteht man, was das heißt: Vorfahren. Von dort kommen wir her, sie sind nicht einfach Geschichte, sondern Teil der eigenen Gewordenheit. Der Anspruch des Romans ist: Erzähle so, dass Deine Zeitgenossen sich erkennen und Spätere uns verstehen.

Ist Europa damit schon literaturtauglich geworden?

Menasse Ich war in Brüssel, als drei Dinge passiert sind. Das eine war der Beginn der großen Finanzkrise, das zweite war die Falschmeldung, die EU will die Homöopathie verbieten, was dazu geführt, dass der Server der Europäischen Union fast zusammengebrochen wäre, und das dritte war der Schock wegen einer Umfrage, die zeigte, dass das Image der Europäischen Kommission im Keller ist. Daraus hat sich dann eine Handlung ergeben.

Aber wie problematisch ist es, sich an die Gegenwart heranzuschreiben? Wird damit nicht oft die Seriosität in Frage gestellt?

Menasse Es gibt so viele Beispiele, bei denen es gelingt. Es genügt nicht, bloß, eine Handlung zu haben, man muss auch die Stimmung einer Zeit miterzählen. Ich habe meinen Roman geschrieben, als das englische Referendum zum Brexit noch nicht stattgefunden hatte. Aber im Roman wird der Brexit praktisch schon vorausgesetzt. Komischerweise konnte ich das in meinem Roman viel genauer sehen als alle, die in ihren Meinungskolumnen irgendetwas spekuliert haben.

Die Figuren im Roman erscheinen als extrem heimatlose Menschen, alles Entwurzelte, die auf Karriere bedacht und Projekte fixiert sind.

Menasse Es wird ja regelmäßig vergessen, wenn man über Eurokraten spricht: was diese Menschen eigentlich aufgegeben haben, um an diesem Projekt Europa zu arbeiten. Es ist ja nicht so einfach, alles zurückzulassen, dort wo man herkommt, Familie und Freunde und Heimat hat, auch wenn man ein sehr gutes Gehalt dafür bekommt. Das produziert irgendwann eine ganz neue Form des Alltags und des Zuhause-Seins. Es bleibt nur noch die Heimat in einem Projekt und die Heimat in Brüssel — einem schrulligen Babel mit seinen verschiedenen Sprachen und all seinen Widersprüchen. Die vielen Sprachen und die vielen Identitäten verhindern aber auch, dass man in einer Blase lebt.

Dieses Brüssel scheinen Sie auch aus schelmischer Perspektive zu betrachten. Wenn Sie etwa den Eurokraten Susmann zur Gedenkfeier nach Auschwitz schicken und er fürchtet, sich dort wegen der Kälte den Tod zu holen…

Menasse Ich sehe gern im Tragischen das Komische, noch lieber das unzulässig Komische. Zugleich bin ich ein schwermütiger Mensch, der verzweifelt Heiterkeit sucht. Es gibt also immer auch depressive Strömungen in meinen Texten. Die Kommissionsbeamten dieser Generation haben alle einen Hang zur Schwermut. Weil sie sehen, wie grottendumm viele Behinderungen sind. Und die eine neue Generation an Eurokraten sieht, die ihre Ideale nicht mehr hat; die also nur noch als Karrieristen unterwegs sind.

Was mich persönlich betrübt, war, dass ausgerechnet das Kulturressort eine Sackgasse für die Laufbahn von Eurokraten ist. Jeder, der dort arbeitet, will in ihrem Buch so schnell wie möglich weg.

Menasse Viele, nicht alle. Aber das ist leider die Realität; und auf der anderen Seite auch vollkommen logisch. In Deutschland ist die Kultur eine Angelegenheit der Länder. Also müssten alle Länder erst ihre Kompetenzen an den Bund abgeben, der diese dann der EU überträgt. In den meisten Mitgliedsstaaten ist es so kompliziert. Das heißt: Die Generaldirektion für Kultur und Bildung kann in diesem Gefüge nur schwach sein. Aber dieser Generaldirektion Kultur verdanken wir — also sie und ich und die Leser und Buchhändler — doch auch, dass die Buchpreisbindung gehalten hat. Das stand ja wirklich auf der Kippe. Das sollten die vielen Kritiker der Europäischen Union auch einmal bedenken.

Lothar Schröder führte das Interview.

Robert Menasse: "Die Hauptstadt". Suhrkamp, 460 Seiten, 24 Euro

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