Interview mit dem preisgekrönten Liriker Raoul Schrott: Ich denke, also dichte ich

Düsseldorf (RP). Der preisgekrönte Lyriker Raoul Schrott ist ein Mann fürs Grundsätzliche: Vor einigen Jahren begab er sich auf die Suche nach Homers Heimat, jetzt erforschte er mit dem Psychologen Arthur Jacobs die neurologische Wirkung von Gedichten. Im Interview mit unserer Redaktion spricht er über diese Wirkung.

 Raoul Schrott hat die Wirkung von Gedichten neurologisch untersucht.

Raoul Schrott hat die Wirkung von Gedichten neurologisch untersucht.

Foto: ddp

Wie kommt man auf die Idee, dem Zusammenhang von Dichten und Denken auf die Spur zu kommen?

Schrott: Es war ein Versuch der Selbstvergewisserung. Ich habe mich gefragt, ob das, was ich als Dichter produziere, nur mentale Kurzschlüsse wären, nur irgendwelche artifiziellen Schleifen; oder ob es im Gegenteil ganz konkret mit unserer Art des Denkens zu tun hat.

Ist die Studie nicht auch ein Kniefall vor dem positivistischen Zeitgeist?

Schrott: Einerseits stimmt das natürlich. Das Geheimnisvolle, Unsagbare und Geniale der Poesie wird zugunsten des Messbaren ausgesetzt — doch nur um sich ihr einmal von der Seite der Pragmatik nähern zu können.

Wie groß ist denn die Gefahr, dass Lyrik dadurch entzaubert wird?

Schrott: Null. Sie gewinnt dadurch nur. Kein Gedicht wird zerstört, indem man hinter den Vorhang schaut. Was man dann wahrnimmt, ist weitaus interessanter und kann die Wirkung des Gedichts nur erhöhen. Damit kann man auch mit dem Vorurteil aufräumen, Gedichte seien "schwierig".

Was haben Sie aus neurologischer Sicht Neues über das Gedicht lernen können?

Schrott: Dadurch, dass ein Gedicht Bild, Musik und Information synchron liefert und im Grunde ein Kino im Kopf ist, wird es zum menschlichsten und komprimiertesten Zeugnis unseres Denkens und unserer Wahrnehmung. Man erkennt, dass das Gedicht in einer Zeit, in der es noch keine Schrift gab, mit seiner musikalisch gebundenen Sprache die einzige Möglichkeit war, sich Informationen über größere Strecken zu merken.

Der Rhythmus ist es also.

Schrott: So ist es. Über die verschiedenen und doch miteinander verknüpften Speichermöglichkeiten der Musik und des Inhalts verfügen wir über die doppelte Kapazität. Wenn wir ein Lied trocken aufsagen, kommen wir drei Zeilen weit; wenn wir es singen, gelangen wir bis zur nächsten Strophe. So fußt bereits die Erfindung des Gedichts auf Pragmatik: nämlich als Erinnerungsspeicher zu fungieren.

Was stellt das Gedicht — in seiner schriftlichen Form — in unserem Gehirn an?

Schrott: Die Erfindung der Schrift ist zweifelsohne einer der revolutionärsten Entwicklungsschritte in der Menschheitsgeschichte. Sie hat unsere Wahrnehmung radikal verändert. Mündlich funktioniert die Sprache über den Klang, in dessen Mitte wir stehen. Das Lesen dagegen stellt uns an den Rand, lässt uns die Worte wie Dinge betrachten und macht das Visuelle dominant. Vorher war das Wort als Klang ein Ereignis, beim Lesen ist es ein Objekt, wird verschiebbar und vor allem beliebig wiederholt lesbar. Plötzlich hatten wir Begrifflichkeiten, mit denen wir wie mit Legosteinen hantieren konnten.

Und warum muss Lyrik immer so kurz sein?

Schrott: Früher hat man behauptet, die Verslänge sei von unserem Atemvolumen abhängig. Was aber nicht stimmt. Verslängen umfassen weltweit im Schnitt zwölf Silben — sie auszusprechen, braucht man drei Sekunden. Das ist entscheidend. So konnten die Neurologen nachweisen, dass diese drei Sekunden dem Arbeitsspeicher unseres Gehirn entsprechen. Das heißt: Wenn wir sprechen, produzieren wir Informationen in Blöcken von drei Sekunden. Die Gedichtzeile ist also eine ideale Verpackungsgröße für Informationen.

Entspricht die Struktur eines Gedichts also am ehesten der Struktur des Gehirns?

Schrott: Genau; von allen menschlichen Zeugnissen entspricht das Gedicht unserer Wahrnehmung am deutlichsten. Es berührt uns also in unserer täglichen Lebenswirklichkeit, ohne dass wir es merken.

Stimmt der Satz: Ich dichte, also denke ich?

Schrott: Schwierig. Wie man an nicht wenigen Gedichten sieht, denkt nicht jeder Dichter. Eher würde ich sagen: Ich denke, also dichte ich.

Lothar Schröder führte das Gespräch.

Buchtitel: "Gehirn und Gedicht"
Verlag: Hanser, 544 Seiten
Preis: 29,90 Euro

(RP)
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