„Babel“-Autor Kenah Cusanit im Interview Eines der tollsten Bücher dieses Frühjahrs

Leipzig · Einer der ungewöhnlichsten und spannendsten Romane dieses Frühjahres ist Favorit für den Leipziger Buchpreis: „Babel“, das Debüt von Kenah Cusanit über die Ausgrabungen der deutscher Archäologen in Babylon und die Entdeckung des Turms zu Babel. Ein Gespräch.

 Ausgrabung von Babylon, eine der wichtigsten Städte des Altertums.

Ausgrabung von Babylon, eine der wichtigsten Städte des Altertums.

Foto: dpa

Warum graben Menschen überhaupt nach der Vergangenheit?

Cusanit Na ja, das tun sie ja noch gar nicht so lange. Im Grunde genommen erst, seitdem sie den Bezug zur Vergangenheit verloren haben – durch die Auflösung familiärer Strukturen, bedingt durch die neue Arbeitswelt, aber auch durch den Rückgang religiösen Einflusses in der Gesellschaft. Zugleich gewinnt um die vorletzte Jahrhundertwende der Wissenschaftler an Autorität und tritt allmählich an die Stelle des religiösen Vermittlers, der die Welt erklärt. Damit wird das Heilsversprechen in die Zukunft verlegt: Wissenschaftler sagen ja immer, wenn wir verstanden haben, wie die Welt funktioniert, dann können wir diese und jene Krankheit heilen, die Welt insgesamt in einen guten Ort verwandeln usw. Nur kann man sich an der Zukunft so schlecht festhalten. Man braucht immer auch eine Rückbindung in die Vergangenheit.

Die Wissenschaft löst die Kirche ab, und dann graben deutsche Archäologen mit dem Turm zu Babel ausgerechnet ein biblisches Zeugnis aus...

Cusanit Das ist der Witz. Wobei die Kirchenvertreter sehr bemüht waren, diese Funde zu ignorieren. Vor allem die Keilschrifttafeln, die bereits 2000 Jahre vor Entstehen des Christentums dessen Geschichten erzählten. Das fing schon Mitte des 19. Jahrhunderts an, als eine Keilschrifttafel gefunden wurde, die belegte, dass es eine babylonische, also heidnische Version der Sintflut-Erzählung gab.

 Kenah Cusani.

Kenah Cusani.

Foto: dpa

Waren sich die Archäologen eigentlich bewusst, dass sie in Babylon die Wege menschlicher Zivilisation ausgraben?

Cusanit Eigentlich müsste es ihnen bewusst gewesen sein. Denn es gab zu dieser Zeit ja diese Panbabylonismus-Bewegung, die versuchte, aus der Gegenwart wieder eine Brücke in die Vergangenheit zu schlagen, indem sie behauptete, dass die kulturellen Wurzeln der Menschheit im Zweistromland lägen. Aber das war eher das Spielfeld der Philologen. Die Archäologen trieb wohl auch Neugier und allgemeiner Erkenntnisdrang, die Politiker eher der Ehrgeiz, den Wettlauf mit Frankreich und England aufzuholen. Deutschland wollte sich selbst in eine tolle Tradition stellen und nebenbei als Verwalter dieses ja universalen Erbes wohl seinen eigenen Weltmachtanspruch unterstreichen.

Dazu gehört auch die Orientbegeisterung des deutschen Kaisers Wilhelm II.

Cusanit Das stimmt. Der Kaiser war von Archäologie besessen, und den Orient hatte er sich ja, wie wir wissen, als seinen Platz an der Sonne ausgesucht. Und dass alles von Babylon ausgeht, also auch unsere Wissenstradition dort ihren Ursprung gehabt haben soll, hatte nicht nur für den Kaiser große Bedeutung. Dass man diesen mythischen Ort Babylon und den Turm beweisen konnte, dass man beweisen konnte, dass die Bibel Recht hatte, und gleichzeitig damit ihren Offenbarungsanspruch untergrub, faszinierte und ängstigte zugleich große Teile der Öffentlichkeit damals.

Wie lange haben Sie recherchiert? Angesichts der vielen Details im Roman muss das eine längere Zeit in Anspruch genommen haben.

Cusanit Ich habe vor etwa sechs Jahren angefangen zu recherchieren, in Bibliotheken und Archiven, und dort im Laufe der Jahre immer mal wieder ein paar Monate mit Originalliteratur verbracht. Vielleicht habe ich 5000, vielleicht 10.000 Briefe gelesen, so genau kann ich es nicht mehr rekonstruieren. Ich bin in jedem Fall auch als Autorin archäologisch vorgegangen und habe ziemlich tiefe Tunnel gegraben in die Korrespondenz der Archäologen und in die Zusammenhänge der Zeit.

Das fragt man sich als Leser übrigens auch: Wieso hatten die Archäologen damals so viel Zeit für so viele Briefe?

Cusanit Na ja, die haben damals ja nicht permanent nebenbei getwittert. Sie sind um 5 Uhr aufgestanden, und dann ging es los. Außerdem kam der Postreiter nur einmal die Woche, da mussten die Briefe fertiggeschrieben sein. Wenn wir also staunen, wieviel Zeit sie für scheinbar nebensächliche Dinge hatten, dann ist das natürlich ein Blick von heute auf die damalige, sehr viel zielfixiertere Zeit, und auf Menschen, die nicht so abgelenkt waren und sich vermutlich auch nicht so leicht ablenken ließen.

Der Roman erscheint mitten in der aufgeregten Restitutionsdebatte. Also, was müssen wir wieder von dem zurückgeben, was einst ausgegraben und in riesigen Mengen nach Berlin geschafft wurde?

Cusanit Gerade bei den Ausgrabungen in Babylon gibt es einen rechtlichen Rahmen – den der damals vereinbarten Fundteilung. Da wurde festgelegt, was nach Berlin ausgeführt werden durfte und was in Konstantinopel bleiben musste. Die Entscheidungsfrage, ob man restituiert oder nicht, greift sehr kurz und blendet auch sehr viele Fragen aus, die davor zu beantworten wären. Zum Beispiel, weshalb all die Funde überhaupt hierhergekommen sind, in unsere Kultur. Denn sind wir nicht eine Museumskultur und gehört zu unserem Gründungsmythos nicht die Erzählung von der Eroberung und der Verwaltung der Welt? Wir haben uns als die großen Zivilisationsbringer gesehen und die Museen zu den Orten gemacht, in denen genau diese Geschichte erzählt wird.

Gehören die Funde damit auch zur Identität Deutschlands?

Cusanit Sehr wahrscheinlich. Wenn man das Ischtartor im Pergamonmuseum so anschaut, dann ist das zugleich auch irgendwie ein Berliner Gebäude. Ein Konstrukt aus einem modernen Teil blauer Füllziegel und aus kleinen Einzelteilen, die in Babylon verstreut auf dem Boden lagen und von den Archäologen nur in Kisten verpackt werden mussten. Wäre das nicht geschehen, hätten die arabischen Bewohner die Steine irgendwann in den eigenen Häusern verbaut. Sie hätten ihr „Erbe“, wie wir das nennen, weiterhin in Verwendung gehabt, was auch eine schöne Vorstellung ist. Wären also die Ausgräber nicht gekommen, hätte es vielleicht nie mehr ein Ischtartor in dieser Form gegeben.

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