Mithu Sanyal im Interview „Doktortitel sticht Migrationsgeschichte“
Düsseldorf · Ihr Roman „Identitti“ hat die Düsseldorfer Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal zur Bestseller-Autorin gemacht. Dabei geht es um die ganz schweren Themen unserer Zeit: Race, Sex und eine Welt, in der manche schneller twittern, als sie denken.
Man stellt sie sich schon, die verbotene Frage: Wieviel Mithu Sanyal steckt in Nivedita, der klugen, aber etwas verunsicherten, halb-polnischen, halb-indischen, eigentlich aber auch ganz deutschen Bloggerin aus „Identitti“, Sanyals erstem Roman?
Nach der deutsch-polnisch-indischen Herkunft hörten die Gemeinsamkeiten schnell auf, wischt die Autorin die nicht gestellte Frage charmant beiseite: „Ich bin schon mal deutlich älter als meine Hauptfigur.“ Außerdem: „Es gibt mehr als eine von uns.“ Das mag global gesprochen stimmen, aber, möchte man einwenden: Es gibt nur eine Mithu Sanyal. Geboren 1971 in Düsseldorf, aufgewachsen und geblieben im von Arbeitern und Migranten geprägten Stadtteil Oberbilk, promoviert mit einer Kulturgeschichte des weiblichen Genitals, preisgekrönte Journalistin und seit vergangenem Jahr: Romanautorin mit einem Erstling, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand.
Nun sitzt sie in ihrer Küche zwischen Kräutertöpfen und Retro-Vorhängen und beantwortet die Fragen von RP-Chefredakteur Moritz Döbler. Ein Interview für die Reihe „Die Döbler-Dialoge“ im Aufwacher-Podcast, zu hören seit Samstag überall dort, wo es Podcasts gibt - und natürlich auch hier auf RP ONLINE.
Beim Lesen von „Identitti“ verschwindet der autobiografische Aspekt schnell wieder aus dem Kopf, die Geschichte nimmt Fahrt auf und man stellt sich andere, viel persönlichere und schmerzhaftere Fragen: Wie sehe ich das eigentlich? Bin ich Rassistin? Was ist richtig, was ist falsch im Umgang miteinander?
Die Protagonistin in Sanyals Roman sucht nach ihrer Identität: Beim Yoga findet sie sie nicht, beim ersten Mal verliert sie sich zwischen „Joy of Sex“ und „Kamasutra“. Indisch kochen kann sie nicht; als sie einen Sari auf offener Straße trägt, wird sie von einem Passanten angegriffen. Wirklich angekommen fühlt sie sich erst im Seminar von Professor Saraswati, einer wunderschönen Intellektuellen – die allerdings, wie sich herausstellt, gar keine Person of Color (PoC) ist, keine Inderin, sondern weiß.
Ist es rassistisch, sich als Inderin auszugeben und „Postcolonial Studies“ zu unterrichten? Oder ist es rassistisch, sich darüber aufzuregen?
„Mir geht es nicht darum zu sagen, ob das, was Saraswati getan hat, gut oder schlecht ist“, sagt Sanyal. „Aber es macht etwas mit den Figuren. Wie kann man jetzt damit umgehen?“ Ihrer Protagonistin Nivedita wird der gerade erst gefundene Boden unter den Füßen weggezogen. Ihr Rollenmodell ist gar keins. Und das Wissen über Rassismus und seine Überwindung, das sie in sich aufgesaugt hat – was ist das eigentlich wert, wenn es von einer Weißen vermittelt wurde? „Wenn ich in den neunziger Jahren über Rassismus reden wollte, hat man mir gesagt: Nee, Mithu, lass mal, du bist zu betroffen. Lass mal die Experten reden“, erinnert sich Sanyal. „Aber die Experten waren alle weiß.“ Saraswatis Betrug sei wie eine Wiederholung dieser Verletzung.
Mithu Sanyal kichert, als sie erzählt, dass sie bei der Wohnungssuche immer noch an ihrem nicht deutsch klingenden Namen scheitert. „Seitdem stelle ich mich immer mit Doktortitel vor. Doktortitel sticht Migrationsgeschichte.“ Das Kichern begleitet auch die Geschichte der Byzantinerin Theophanu, „eine Frau mit meiner Hautfarbe“, die Ende des 1. Jahrtausends Kaiserin des römisch-deutschen Reiches war. „Sie hat den Deutschen die Gabel mitgebracht und das Händewaschen – wichtige Kulturleistungen, gerade in einer Pandemie. Warum haben wir das nicht in der Schule gelernt?“ Sanyal kann das: locker und unideologisch über Wurzeln und Auswüchse von Rassismus in unserer Gesellschaft sprechen. Eine Fähigkeit, die man auch den Kombattanten auf Twitter, Facebook oder in Fernsehtalkshows wünscht.
„Ich habe durch alle meine Bücher wahnsinnig viel gelernt“, schwärmt Sanyal. Ob weibliches Genital („Auch Männer können eine Vulva haben“), Religion („Das einzige, was ich nicht glauben kann, ist, dass wir so ein Staubkörnchen sind, das durchs Universum rast.“) oder Heimat („Maya Angelou: ‚Heimat ist der Ort, an dem ich sein kann, ohne infrage gestellt zu werden.‘“) – das schreibend angehäufte Wissen macht Sanyal zu einer faszinierenden Gesprächspartnerin. Wer ihren Worten weiter lauschen möchte, kann nach Hören des Podcasts eine Theaterkarte kaufen: „Identitti“ wird bis 18. März noch drei Mal am Düsseldorfer Schauspielhaus gegeben.
Ursprünglich hieß es in diesem Artikel, Theophanu sei Ende des 1. Jahrhunderts Kaiserin gewesen. Es war aber das Ende des 1. Jahrtausends. Wir haben den Fehler korrigiert und bitten ihn zu entschuldigen.