Stichwortgeber der „Dritten Kultur“ Kurator des Künftigen

Düsseldorf · US-Netzwerker John Brockman lässt auf seiner Homepage die hellsten Köpfe der Gegenwart über die Welt von morgen nachdenken.

 Strippenzieher und Stichwortgeber: John Brockman (77). Foto: dpa

Strippenzieher und Stichwortgeber: John Brockman (77). Foto: dpa

Foto: picture alliance / Robert Schles/Robert Schlesinger

Wenn John Brockman eines auf den Tod nicht ausstehen kann, dann sind das Kulturfuzzis, die meinen, sie seien Intellektuelle, nur weil sie einen Roman mehr gelesen haben als andere. Diese Aversion mag auf den ersten Blick verblüffen, denn Brockman hat sein Vermögen mit Büchern gemacht. Seine Agentur residiert in New York an der Fifth Avenue. Dort verkauft der 77-Jährige allerdings keine Fiction, sondern Science. Zu Brockmans Schäfchen gehören die klügsten Köpfe der populären Wissenschaftsliteratur. Als mächtige Herde besetzen sie regelmäßig die ersten Plätze der weltweiten Sachbuchbestenlisten: Nobelpreisträger Daniel Kahneman („Schnelles Denken, Langsames Denken“), Jaron Lanier („Wem gehört die Zukunft?“), Steven Pinker („Denken. Wie Denken im Kopf entsteht“), Richard Dawkins („Der Gotteswahn“) und Jared Diamond („Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften“). Diese Leute, sagt Brockman, seien die wirklichen Intellektuellen unserer Zeit.

Brockman ist Strippenzieher, Schlüsselfigur und Stichwortgeber. Er hat den Begriff der „dritten Kultur“ geprägt, denn er möchte die Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaften überbrücken. Die relevanten Fragen der Menschheit, sagt er, stellt heute die Naturwissenschaft. Die Wissenschaft mache unsere Welt unumkehrbar zu einer anderen. Ja, sie sei das Neue schlechthin. Neue Erkenntnisse müsse man mit den Mitteln der Philosophie fruchtbar machen und ins Bewusstsein der Menschen bringen. Empirie statt Imagination.

Brockmann betreibt quasi nebenbei die Website edge.org, und die ist so etwas wie ein Wurmloch in die Zukunft. Brockman wirkt dort als Kurator des Künftigen, als Korres­pondent des Morgen. Der Mann, der sich in einer Denkgemeinschaft mit Goethe und Alan Turing wähnt, ist bei aller Selbstgewissheit doch bescheiden genug, nicht selbst über das Kommende zu berichten. Er stellt lieber Fragen, jedes Jahr eine, und er lässt die hellsten Geister der Welt darauf antworten. Und weil Brockman seit den 1960er Jahren auch als gewitzter Netzwerker gewirkt hat und gut bekannt ist mit Genom-Sequenzierer Craig Venter, Facebook-Chef Mark Zuckerberg, Google-Mitbegründer Sergey Brin und dem britischen Schriftsteller Ian McEwan, lassen sie im Silicon Valley, in Princeton, am MIT, in Harvard, Yale und überhaupt überall gerne die Köpfe für ihn rauchen.

Jedes Jahr erscheinen die besten Antworten als Buch, und jeder Band ist eine Anleitung zum Fortfahren, eine Einladung zum Gewahrwerden, Weiterdenken und Loslegen. Die Frage des vergangenen Jahres lautete: „Was halten Sie für die interessanteste Neuigkeit unserer Zeit, und was macht deren Bedeutung aus?“ Der Evolutionsbiologe Robert Trivers antwortete sehr knapp: Das Schmelzen der Gletscher, „denn versuchen Sie mal, mit einem Meeresspiegel zu leben, der im Schnitt fünf Meter höher ist als heute“. Der Physiker Richard Muller aus Berkeley nannte die Luftverschmutzung; und auffallend viele seiner Kollegen bewerteten die neuesten Erkenntnisse über den Zwergplaneten Pluto als heißeste News. Er sei geografisch aktiver als angenommen, er verfüge gewissermaßen über einen aktiven inneren Motor, der die Form seiner Oberfläche stets verändere. Das berge ungeahnte Möglichkeiten. Das konventionelle Wissen, darunter die Newtonsche Physik, müsste nun jedenfalls überdacht werden.

Die Wissenschaftler plädierten dafür, Neuigkeiten aus ihren Bereichen über einen längeren Zeitraum zu beobachten. Oft werde etwas gemeldet und dann rasch vergessen. Dabei seien Vorstöße in den Naturwissenschaften erst später in ihrem Ausmaß zu begreifen. Die CRISPR-Technologie etwa, mit der man am Computer Genome zerschneiden, neu editieren und also Designermenschen schaffen könne. Überhaupt die Bioinformatik, sie gilt als Disziplin der Zukunft. Mit ihr könne man möglicherweise Mikroben schaffen, die der Atmosphäre Kohlendioxid entziehen. Eine weitere wichtige Idee: Die Anwendung von 3D-Druckern in der Medizin könne es ermöglichen, Organe individuell nachzubauen. Und das sogenannte synthetische Lernen ermögliche es Dingen und Sachen, während des Gebrauchs besser zu werden, weil sie sich automatisch an das jeweilige Nutzerverhalten anpassten.

Brockmann will mit edge.org einen radikalen Neustart der menschlichen Kommunikationsideologie herbeiführen. Er hat weitere solcher markigen Sätze auf Lager. Den hier: „Ich will den Rand des Wissens der Welt erreichen.“ Oder den: „Meine besten Freunde heißen Unbequemlichkeit, Verwirrung und Widerspruch.“ Und den: „Als ich 1965 in Harvard den ersten Computer sah, habe ich mich sofort verliebt.“ Brockman ist Sohn jüdischer Eltern, er wuchs in Boston auf. Mit 19 kam er nach New York, studierte dort Wirtschaft und arbeitete später in der Finanzbranche. Es waren die 1960er Jahre, Brockman wohnte in Greenwich Village, er traf Bob Dylan, Joan Baez und Andy Warhol. Er war ein Kumpel von John Cage und mit Sam Shepard befreundet. Er heiratete die Künstlerin Katinka Matson, eine höhere Tochter aus dem Ostküsten-Adel, deren Fotos von Blumen sehr schön sind, aber nicht auf eine romantische Art, sondern anatomisch und kalt.

Der Avantgarde-Filmemacher Jonas Mekas fragte Brockman irgendwann, ob er nicht mit ihm die Cinematheque für Underground-Filme leiten wolle. Brockmann wollte und holte Godard und Fellini nach Amerika, fördert den jungen Scorsese, und weil ihm das nicht genügte, ließ er Wissenschaftler der Ivy-League-Unis Vorträge zwischen den Filmen halten. Im Grunde organisierte er damals die ersten interdisziplinären Symposien.

1973 gründete er dann seine Agentur und vermittelte seine Freunde als Autoren an Verlage. Aus den Freunden wurden Stars, aus Brockman ein Impresario. Legendär sind seine jährlichen Treffen auf seiner Farm in Connecticut. An einem Wochenende kommt die IQ-Elite bei ihm zusammen und liefert Antworten auf diese Fragen: Was ist der Mensch? Was ist das Gehirn? Was ist der freie Wille? Was ist Intelligenz? Fragen sind das Wichtigste, findet Brockman, sie bilden die Säulen seines Gedankengebäudes, seines Imperiums. Fragen tragen per se Transzendenz in sich, sie wollen nämlich Antworten, sie wollen Zukunft. Und genau darum geht es Brockmann: die Flöhe husten zu hören.

John Brockman ist nun fast 80, und er meint, er habe inzwischen genug Denkanstöße gegeben. 20 Edge-Fragen hat er bereits gestellt. Die Edge-Frage dieses Jahres soll denn auch die letzte sein. „Was ist ihre letzte Frage?“, heißt sie. Einer der ersten Beiträge stammt von dem Musiker Brian Eno.

Er lautet: „Haben wir das Zeitalter der Vernunft verlassen, ohne zurückkehren zu können?“

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