Interview mit Stefan Klein Experte: "Es gibt keine Traumsymbolik"

Düsseldorf · Für Träume braucht man sich nicht zu schämen. Im Gegenteil: Man sollte sich ihnen viel stärker hingeben, weil sie ein Schlüssel zum Bewusstsein sind. Neue Hirnforschungsergebnisse hat der Wissenschaftler Stefan Klein in seinem Buch zusammengetragen. Und in manchem hat er Chef-Traumdeuter Sigmund Freud widersprochen. Ein Gespräch über die Faszination und das Potenzial des Träumens.

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Foto: shutterstock/ Africa Studio

Herr Klein, ich träume ganz einfach, immer nur das Naheliegende. Muss ich mir Sorgen machen?

Klein Das glaube ich nicht, dass Sie so einfach träumen. Wenn Sie Ihre Traumerinnerung trainieren würden — was recht einfach geht — dann würden Sie feststellen, was alles in Ihren Träumen steckt, wie vielschichtig sie sind, wie luftig und bunt in einem Maße, das Sie sich vielleicht nicht vorstellen können.

Männer sagen immer, dass sie nicht träumen, während Frauen ihre Träume kennen.

Klein Vielleicht sind Frauen ein bisschen mehr bereit, ihr Innerstes preiszugeben. Im Schlaflabor ergeben sich indes keine Unterschiede.

Wie müssen wir unsere Einstellung zum Träumen ändern?

Klein Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich glaube, dass wir uns heute einen viel freieren Umgang mit unseren Träumen erlauben können. Träume drücken nichts Verbotenes und Verdrängtes aus. Wir wissen heute, dass Träume bedeutungsvoll sind, aber sie haben keine versteckte Bedeutung. Es gibt keine Traumsymbolik.

Damit widersprechen Sie Freud!

Klein Ich will jetzt nicht pauschales Freud-Bashing betreiben, Freud hat großartige Pionierarbeit geleistet. Aber die Vorstellung, dass es so etwas wie eine Traumzensur gibt, ist vollkommen überholt. Was uns Träume zu sagen haben, das sagen sie uns direkt.

Träumt jeder in jeder Nacht?

Klein So ist es. Jeder gesunde Mensch tut das.

Und wozu sind Träume gut?

Klein Träume sind so etwas wie ein virtuelles Übungsfeld der Realität. Wir haben verstanden, dass der Schlaf und die Träume viel wichtiger sind als bisher angenommen.

Wichtig wozu?

Klein Schlaf ist eben nicht nur eine Phase der Erholung, sondern im Schlaf ist unser Gehirn in vielen seinen Teilen mindestens so aktiv, wie wenn wir wach sind. Ohne die Möglichkeit zu träumen, würde unser Verstand gar nicht funktionieren.

Bisher hatte Sigmund Freud die Deutungshoheit über den Traum.

Klein Ich glaube, Freud hat sehr richtig gesehen, dass Träume wesentlich von Gefühlen getrieben sind. Er hat gesehen, dass Träume etwas zu tun haben mit unserer Erinnerung, und dass unsere Erinnerung nicht chronologisch funktioniert, sondern assoziativ.

Das heißt?

Klein Unsere Erinnerung ist nicht einfach ein Film, den wir abspielen, sondern sie lässt sich viel eher vergleichen mit einer Datenbank, in der verschiedene Ereignisse und Fakten miteinander verknüpft sind. Freud hatte eine fantastische Introspektion und Beobachtungsgabe. Er war einer der ersten, die erkannt haben, dass Träume bedeutsame psychische Ereignisse sind und dass es so etwas wie eine Kontinuität gibt zwischen unserem Wachleben und unserem Traumleben.

Und was wirft man ihm heute vor?

Klein Er hat weder wissen können, dass unser Gehirn nachts ganz anders funktioniert als tagsüber, noch wie es funktioniert. Er hatte kein Schlaflabor. Er täuschte sich darin, zu glauben, dass es gelingen könnte, aus einem einzigen Traum eine Bedeutung herauszuziehen. Wenn Sie die Träume einer Person verstehen wollen, dann müssen Sie hunderte Träume von ihr anschauen, und Sie brauchen ein Traumtagebuch — die Protokolle der Träume.

Sie haben für Ihr Buch internationale Studien ausgewertet. Was hat Sie selber am meisten überrascht?

Klein Die ganz große Überraschung waren zwei Dinge: Der Umstand, dass wir die ganze Nacht hindurch träumen. Das sagt uns etwas ganz Tiefsinniges über unser Gehirn: Träume sind bewusstes Erleben. Das zweite sind die visuellen Träume der Blindgeborenen, die ich im Buch beschreibe. Das zeigt etwas, was über die Träume an sich hinausgeht, nämlich dass wir in unserem Erleben viel weniger von der Sinneswahrnehmung abhängig sind als wir bisher angenommen haben.

Sie schreiben, dass der Geist im Schlaf über ungewöhnliche Fähigkeiten verfügt.

Klein Es gibt ein riesiges Land zwischen Wachen und Träumen, und in diesem Land halten wir uns viel länger auf, als wir es für möglich halten. Zum Beispiel dann, wenn wir geistesabwesend sind, weil wir uns einem Tagtraum hingeben, vielleicht auch nur, weil wir blinzeln. Dann geht unser Gehirn für ein paar zehntel Sekunden oder auch Minuten in einen traumähnlichen Zustand. Das Gemeinsame ist, dass sich die Aufmerksamkeit nach innen richtet und das Gehirn sich selbst organisiert — als würde es seine Speicher aufräumen. Dass wir das, was wir erleben, ordnen müssen. Dafür müssen wir uns immer wieder von der Außenwelt zurückziehen.

Dann machen wir den Schalter zu?

Klein Genau das tun wir, wenn wir nachts träumen. Das ist das, was unser Gehirn von einem Computer unterscheidet.

... das Geheimnis?

Klein Ein Computer muss nicht träumen. Wenn es je gelingen würde, einen Computer zu bauen, der annähernd das könnte, was unser Geist kann, dann wäre der vielleicht größer als unser Gehirn und würde sehr viel mehr Energie verbrauchen. Unser Gehirn ist deswegen eine so fantastisch effiziente Maschine, weil wir träumen können.

Warum erscheinen uns Träume oft so absurd, zerrissen, so unsinnig?

Klein Weil unser Verstand assoziativ funktioniert. Weil wir mit Möglichkeiten spielen, weil wir Hypothesen testen. Wenn wir wach sind, dann gibt es einen Teil unseres Gehirns, den präfrontalen Cortex, der aufpasst, dass unsere Gedanken nicht allzu wild herumspringen. Der macht ständig Realitätschecks und Checks auf Plausibilität. Im Schlaf ist der präfrontale Cortex normalerweise abgeschaltet. Und dann wurschtelt Ihr Hirn fröhlich vor sich hin, so assoziativ, wie es einmal ist.

Dass das absurd erscheinen kann, liegt also auf der Hand?

Klein Einerseits. Andererseits aber eröffnet uns dieser Zustand ganz neue Möglichkeiten — nämlich die des kreativen Denkens. Was Sie sonst als einen Mangel empfinden mögen, dass Sie ziemlich frei assoziieren, kann sich eben auch als ein großer Vorteil erweisen.

Aber im Traum passt so vieles nicht zusammen.

Klein Da sehen Sie, dass Ihr sogenanntes Ich in seine Bestandteile zerfällt. So können Sie ein intensives Erleben haben, aber kein logisches Denken, oder einen ganz starken Willen, aber trotzdem nicht das Gefühl, Ihre Handlungen steuern zu können. Oder sie sehen Bilder aus der Vergangenheit, ohne zu wissen, dass es Erinnerungen sind.

Sie schlussfolgern: Der Schlaf ist das Testbett für das Bewusstsein.

Klein Das zeigt uns, dass das Bewusstsein kein homogenes Etwas ist und dass wir ganz viel wegnehmen können und feststellen, da ist immer noch Bewusstsein. Das ist doch toll!

Träumen kann kreativ sein — Paul McCartney soll die Melodie zu ,Yesterday' im Traum gekommen sein.

Klein Dass Bewegungen im Traum gelernt werden können, ist experimentell nachgewiesen. Der legendäre Pianist Horowitz hat mal gesagt, er habe seine Fingersätze geträumt. Im Schlaf werden neue Verknüpfungen im Gehirn angelegt. Eine Melodie zu erfinden, ist nichts wesentlich anderes. Wir denken nachts sehr kreativ. Und je später die Nacht, desto mehr Gehirnregionen werden zugeschaltet, Sie werden zu immer komplizierteren geistigen Leistungen fähig. Der Schlaf wird leichter, der Traum wird intensiver und vielfältiger.

Es gibt Träume in uns selbst. Sind darin die unbekannten Räume verborgen, die buchstäblich in den Träumen liegen?

Klein Nein, es sind eher die Räume, die wir im Traum betreten. Man bewegt sich in einer eigenen Welt, die hat etwas mit der Welt zu tun, die uns umgibt, ist aber nicht diese Welt.

Wie gehen wir um mit dieser Traumwelt?

Klein Ganz einfach. Wir sollten diese zweite Welt ernst nehmen und nicht alles, was uns im Schlaf begegnet, an der Wachwelt messen und vor allem nicht in den Begriffen der Wachwelt deuten.

Annette Bosetti führte das Gespräch.

(RP)
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