Neuer Fortsetzungsroman in der RP Eine Nachkriegsjugend am Niederrhein

Kleve · Hiltrud Leenders’ „Pfaffs Hof“ ist unser neuer Fortsetzungsroman. Kurz nach der Veröffentlichung starb die Autorin.

 Ende der 50er Jahre: Kinder spielen vor der ev. Kirche in Nierswalde, die 1956 eingeweiht wurde. Hiltrud Leenders ist in Nierswalde (bei Goch/Kleve) aufgewachsen.

Ende der 50er Jahre: Kinder spielen vor der ev. Kirche in Nierswalde, die 1956 eingeweiht wurde. Hiltrud Leenders ist in Nierswalde (bei Goch/Kleve) aufgewachsen.

Foto: Heimatverein Nierswalde , Repro/Heimatverein Nierswalde , Repro: Evers

Als erstes waschen sie die Küchenschränke und die wuchtige Anrichte aus, um den Muff aus dem Haus zu bekommen. Denn „Pfaffs Hof“, in dem Annemarie und ihre Eltern unterkommen, ist ein klammer, alter Kasten am Rande eines niederrheinischen Dorfes. Der Muff hängt allerdings nicht nur in den Räumen, sondern auch in den Köpfen der Leute, die den Krieg vergessen, das Geschehene ruhen lassen wollen. Die 60er Jahre haben gerade begonnen, man träumt von Zentralheizung, geblümten Tapeten, einer neuen Möbelgarnitur und hält Hühner im Hof, um ein paar Groschen sparen zu können. Abgezählt liegen sie in den hinteren Tassen im Schrank.

Annemarie muss mit anfassen beim Einzug, die Mutter erwartet bald ein Kind. Darum ist auch Tante Guste gekommen, die Wörter benutzt wie „Ströppken“, wenn sie Annemarie trösten will. Das Mädchen hat es nicht einfach. Der Vater wird nachts von den Kriegserinnerungen eingeholt und hat den ältesten Sohn hinausgeworfen, als der über die Nazis reden wollte. Seitdem herrscht Krieg zwischen den Eltern. Ausgetragen wird der vor allem durch erbittertes Schweigen, und Annemarie flüchtet in ihre Bücher, rettet sich nach Bullerbü.

Ohne Umschweife versetzt Hiltrud Leenders ihre Leser in „Pfaffs Hof“ an den Niederrhein, in eine Zeit, als die Leute noch nicht zur Entschleunigung aufs Land zogen, sondern weil dort Häuser für die Ostflüchtlinge gebaut wurden. Die Welt, die Leenders in den Erlebnissen und Gedanken eines jungen Mädchens entstehen lässt, ist keine Idylle, aber bevölkert von lebensechten Figuren, die ihren Alltag und ihre Träume haben, die mit dem leben müssen, was sie während der Kriegsjahre getan und erlebt haben, und nun wollen, dass es vorangeht.

Die große Kunst der Autorin besteht darin, dass das alles wirklich lebendig wird, und die Figuren sprechen, wie es zu den Typen passt. Zugleich ist der Roman mit souveräner Kargheit geschrieben. Es wird gerade nicht jede Szene ausgepinselt, jedes Alltagsdetail getreulich erwähnt, sondern nur die Dinge, die nötig sind, um eine Wirklichkeit wahrhaftig entstehen zu lassen. Da spürt man, dass die Autorin, die vor wenigen Wochen nach langer Krankheit im Alter von 63 Jahren gestorben ist, sich selbst als Lyrikerin verstand. Ihre Kunst ist Verdichtung und Auslassung. Wenn eine solche Autorin einen Heimatroman schreibt, muss man keine Sentimentalität, kein süßliches Erinnern befürchten.

Außerdem ist ja das Schweigen das eigentliche Thema dieses Romans. Und so wird Wesentliches in „Pfaffs Hof“ gar nicht erzählt. Der verstoßene Sohn etwa taucht nur einmal kurz auf, ist als abwesender Fragensteller aber doch eine zentrale Figur in „Pfaffs Hof“. Der Vater will sich unliebsamen Fragen nicht stellen und kann seinen Frieden doch nicht finden. Also schuftet er gegen die Vergangenheit an und geht schlafen, wenn er mal wieder Streit mit seiner Frau hat.

Es gibt Lieblosigkeiten in dieser Familie. Da stürzt Annemarie vom Rad, müsste eigentlich ins Krankenhaus, doch die Mutter wickelt ihr nur Mull ums Bein, schickt sie in die Schule – und nur ein Satz verrät, was die Mutter dazu treibt. Zugleich findet Annemarie in diesem Elternhaus genug Rückhalt, um den Sprung aufs Gymnasium zu schaffen und sich beharrlich aus der Familienenge zu befreien. Bis sie die Kraft hat, mit stillem Selbstbewusstsein ein kleines, großes Zeichen gegen das Schweigen der Elterngeneration zu setzen. „Pfaffs Hof“ ist ein Entwicklungsroman, aber einer, der ohne große Gesten, ohne rebellisches Getue auskommt. Annemaries Emanzipation bleibt bodenständig, aber sie ist durchaus radikal.

Mehr als zwölf Jahre hat Hiltrud Leenders an dem bei Rowohlt erschienenen Roman gearbeitet, hat Szene um Szene zu diesem niederrheinischen Gesellschaftspanorama zusammengefügt. Dieses langsame Reifen spürt man an der Gelassenheit des Erzähltons, an der Selbstsicherheit mit der beschrieben – und weggelassen wurde.

Eigentlich war die Autorin ja in einem anderen Genre erfolgreich, schrieb mit ihrem Mann, dem Chirurgen Artur Leenders, und dem Psychotherapeuten Michael Bay Kriminalromane. Doch sind auch die Geschichten des Trios Criminale Leenders/ Bay / Leenders keine Heimatkriminetten. Sie erzählen von Gegenwart und Gesellschaft, von politischen Strömungen, von den Menschen am Niederrhein – und nutzen den Mordfall als Handlungsbeschleuniger.

Hiltrud Leenders aber wollte auch eine Geschichte über das Aufwachsen in der Nachkriegszeit schreiben, es ist die Zeit, in der sie selbst erwachsen wurde. Bis kurz vor ihrem Tod hat sie an ihrem Roman gearbeitet, als er im Juni erschien, war sie schon zu schwach, um ihn noch selbst vorzustellen. So ist „Pfaffs Hof“ nun auch ein Vermächtnis geworden, die erzählerische Bilanz einer Schriftstellerin, die nicht hadert, nicht schönt. Das macht diesen Roman zu einer sehr persönlichen, und zugleich gültigen Geschichte.

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