Schriftsteller Grass im Hamburger Millerntorstadion Günter Grass auf grünem Gras

Hamburg (rpo). So voll war es an den Kassenhäuschen des Hamburger Millerntorstadions, dass es selbst Prominente nicht rechtzeitig zum "Anpfiff" schafften. So kam auch Hauptdarsteller Günter Grass 20 Minuten zu spät ins "Wohnzimmer" des FC Pauli - wo am Sonntagabend etwa 1000 Zuhörer den Worten des Schriftstellers lauschten.

Wo sonst knapp 21 000 enthusiastische Fans Stanislawski, Boll und Hanke zum Sieg brüllen, hörten die Roman-Fans dem Literatur-Nobelpreisträger von 1999 zu, der gut gelaunt, souverän und ganz im Stile eines Fußballspiels eine Lesung von zweimal 45 Minuten. Dazwischen, wie beim echten "Spiel", 15 Minuten Halbzeitpause.

Der Verein hat für den Lübecker Autor ("Die Blechtrommel"), Maler und Bildhauer extra auf dem Spielfeld eine Bühne samt Stehpult errichtet, während das bunt gemischte Publikum auf der überdachten Haupttribüne Platz nimmt.

Den Großteil des ungewöhnlichen literarischen Ereignisses liest Grass aus seinem 1999 publizierten Buch "Mein Jahrhundert" vor, eine Zusammenstellung von 100 Geschichten. Er habe 14 davon ausgewählt, "14 Geschichten, in denen sich alles Mögliche, aber auch der Sport, widerspiegelt", sagt der Schriftsteller, der "die kleinen Vereine liebt" und vor allem Fan des Erstligisten SC Freiburg ist.

Grass gewährt einen tiefen, teils sehr amüsanten Einblick in die erste Fußball-Weltmeisterschaft 1903 in Altona, gefolgt von der Faszination Boxen um Max Schmeling (1930), den Olympischen Spielen in Berlin (1936) bis hin zum "Wunder von Bern" (1954) und Armin Harys 100-Meter-Rekordläufen (1960) sowie Omas Erinnerungen an Steffis und Boris' Aufstieg zum Tennis-Olymp (1985). Und wie es sich für ein ordentliches Fußballspiel gehört, geht Grass in die Verlängerung, liest nach 90 Minuten noch aus seinem jüngsten Werk, dem 2003 erschienenen Gedichtband "Letzte Tänze" - denn "Tanzen ist der einzige Sport, den ich wirklich ausübe", verrät er.

Mit minutenlangen stehenden Ovationen bedanken sich die begeisterten Zuschauer bei dem Schriftsteller für seinen ungewohnten Ausflug auf den grünen Rasen. Grass, inzwischen von St.Pauli-Präsident Corny Littmann mit einem typisch braun-weißen Fan-Schal behängt, bedankt sich mit einer Signierstunde.

Littmann war es auch, der den gebürtigen Danziger für die Benefiz-Lesung ans Millerntor lockte. "Das ist ein besonderer Tag für den FC St. Pauli und eine einmalige Veranstaltung in der deutschen Fußballgeschichte", erklärt Littmann. Er habe zwar die Idee, Grass könne im Stadion des Drittligisten lesen, anfangs für "utopisch" gehalten. Doch kein Geringerer als Grass' Sohn Bruno, ein eingefleischter St.Pauli-Anhänger, habe dem Vater den Vorschlag unterbreitet.

Mit der Lesung wollte der krisengeschüttelte Traditionsclub nicht nur seine Verbundenheit zur regionalen Kulturszene dokumentieren, sondern auch Geld in die leeren Vereinskassen spülen. Nach dem Abstieg in die Regionalliga drohte dem einstigen "Weltpokalsiegerbesieger" vor einem Jahr der Lizenzentzug. Littmanns Idee mit dem Verkauf von "Retter"-T-Shirts und andere Hilfsaktionen konnten jedoch den Fehlbetrag von etwa zwei Millionen Euro ausgleichen und die Lizenz erhalten.

Doch nach wie vor wandeln die Kiez-Kicker am Rande des finanziellen Abgrundes. Die Lesung von Günter Grass steht in einer Reihe mit Konzerten, Kunstauktionen und anderen Veranstaltungen, die der Verein zur eigenen Rettung bereits initiiert hat und noch initiieren wird. Der deutsch-französische Kulturkanal Arte sendet am Donnerstag ab 20.00 Uhr eine 15-minütige Zusammenfassung der Lesung.

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