Memoiren Grass liest erstmals vor Publikum aus der "Zwiebel"

Berlin (rpo). In den vergangenen Wochen ebbte die Diskussion um Günter Grass' spätem SS-Geständnis nicht ab. Im TV durfte der Schriftsteller schon Teile präsentieren, am Montagabend las er in Berlin bei der Literaturveranstaltung "Blaues Sofa" des Berliner Ensembles das erste Mal vor Publikum aus seinem Werk "Beim Häuten der Zwiebel". Eine Kritik.

"Ich habe nicht gedacht, dass Literaturkritiker so unter ihrem eigenen Niveau argumentieren würden." Beifall brandet auf. Günter Grass schlägt die Beine übereinander und sitzt sichtlich zufrieden auf einem blauen Sofa, das mitten auf der Bühne des Berliner Ensembles steht. Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach seinem späten Bekenntnis zur Mitgliedschaft in der Waffen-SS agiert der 78-jährige Literaturnobelpreisträger am Montagabend nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung.

Moderator Wolfgang Herles hat es in den 100 Minuten schwer. Erwartet wird, dass Grass endlich sagt, warum er, der immer als Mahner und Moralist auftrat, erst mit der Veröffentlichung seiner Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" vor rund drei Wochen die Mitgliedschaft in der Waffen-SS einräumte. Grass zieht es vor, nicht direkt darauf zu antworten. Er habe eben einfach lange gebraucht, eine Form zu finden und habe immer "Misstrauen der biografischen Form" gegenüber gehabt, da Erinnerung dazu neige zu schönen.

Grass und auch das Publikum scheinen nicht allzu viel Lust auf Nachfragen zu haben. Warum die Kritiker denn so hart urteilten, will Herles wissen. "Die Motive, die in den Köpfen einiger Ihrer Kollegen rumspuken, ich kann sie nicht ergründen. Aber Sie kommen aus der Branche. Sie müssten eigentlich besser darüber Bescheid wissen", antwortet Grass und bekommt wieder Szenen-Applaus.

Auch als Werbeaktion für das Buch will er das Bekenntnis nicht gewertet wissen. Drei Jahre habe er an dem Buch gearbeitet, antwortet der Autor der "Blechtrommel". "Man kann für alles Mögliche werben, nur für Bücher offenbar nicht", fügt er hinzu. Allerdings: Die erste Auflage von 150.000 Exemplaren war bereits kurz nach der Veröffentlichung ausverkauft und stand sofort auf Platz eins der Verkaufscharts. Die nächste Auflage, 100.000 Exemplare, ist mittlerweile im Handel.

Weiter als Mahner auftreten

Große Protestaktionen muss Grass an diesem Abend nicht fürchten. Vor dem Brecht-Haus haben sich gerade einmal eine Hand voll Antifaschisten versammelt, die ein Plakat mit der Aufschrift "GraSS - Du bist Deutschland!" tragen - und dagegen protestieren, dass ein ehemaliger SS-Angehöriger ausgerechnet im Berliner Ensemble die erste öffentliche Lesung seiner Autobiografie durchführen kann.

Wie bereits bei der Präsentation seines Verlags Steidl am Nachmittag lässt Grass auch wenige Stunden später verlauten, dass die Kritik nicht spurlos an ihm vorbei gegangen sei, er betroffen sei. "Bei einer Debatte, die auch an die Nieren geht, bin ich auf die Leser angewiesen", sagt er und lehnt sich im Scheinwerferlicht zurück. Sein cremefarbener Anzug leuchtet auf den dunkelblauen Polstern. "Dass die Reaktion so ausfiel, damit habe ich nicht gerechnet." Aber er habe Zuschriften bekommen, "die haben mich stabilisiert".

Es sei die "Dummheit meiner jungen Jahre" gewesen, die ihm die Nazis attraktiv erscheinen ließen. In der Waffen-SS-Division "Frundsberg" habe er nur wenige Tage Kampfhandlungen erlebt. Das sei ein zusammen gewürfelter Haufen gewesen. "In die Waffen-SS bin ich hineingeraten ohne mein Zutun."

Aber schweigen werde er wegen seiner Vergangenheit natürlich nicht. "Mit welchen Recht wird das von mir verlangt?", fragt er. Es sei schließlich nur eine "kurze Phase in meinem Leben" gewesen, in der er in der Waffen-SS gewesen sei. Damals habe er gedacht, Konzentrationslager seien eine Art Straflager gewesen. Erst nach und nach habe er völlig akzeptieren müssen, dass "diese Verbrechen auf das deutsche Volk" zurückgehen.

Trotz aller Kritik: "Ich stehe nach wie vor auf beiden Beinen. Ich werde auch weiterhin den Mund aufmachen, wenn ich das für richtig halte", sagt Grass. Dann schreitet er zum Rednerpult und liest voller Lust eine Stelle aus seinem Buch: "Das norddeutsche Blutgericht Schwarzsauer, verdickt mit geschnetzelten Schweinenieren, gehört zu meinen Lieblingsgerichten. Und habe ich Gäste geladen - wechselnde Skatbrüder aus wechselnder Zeit -, kommt grobe Kost auf den Tisch."

Herles blickt auf seine Uhr. Hunger habe er jetzt bekommen, da er den ganzen Tag noch nichts gegessen habe, sagt er. Es sei spät, Zeit, Schluss zu machen. Grass nickt, erzählt dann aber doch gerne noch eine Anekdote von seiner Liebe zu alten Schreibmaschinen. Noch einmal brandet Beifall auf, dann tritt Grass erhobenen Hauptes ab.

(afp)
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