Düsseldorf Die Zukunft vor 100 Jahren

(RP). 1910 befragte der Journalist Arthur Brehmer etliche Experten danach, wie die Welt in 100 Jahren wohl aussehen werde – also 2010. Sein Wissensbuch über jene Zukunft, in der wir gerade angekommen sind, war ein Bestseller. Der ist jetzt neu aufgelegt worden.

(RP). 1910 befragte der Journalist Arthur Brehmer etliche Experten danach, wie die Welt in 100 Jahren wohl aussehen werde — also 2010. Sein Wissensbuch über jene Zukunft, in der wir gerade angekommen sind, war ein Bestseller. Der ist jetzt neu aufgelegt worden.

Menschen sind extrem süchtig nach Zukunft. Wir sind gierig auf Antworten, wie es dereinst sein könnte. Darum sind unsere Spekulationen über die Welt von morgen und übermorgen meist verknüpft mit Erwartungen — mit kleinen (Wie wird der nächste Urlaub werden?) und großen (wie bei den Fünfjahresplanern). Aber wenn der Blick in die Areale der Utopie vordringt, dann wird die Zukunftsschau zum Fantasie-Beschleuniger. Wie 1910, als der Journalist Arthur Brehmer (1858—1923) etliche Experten bat, die Welt so zu beschreiben, wie sie in 100 Jahren ist — also 2010. Damit sind wir in der eigenen Gegenwart angekommen und können mit dem frisch aufgelegten Bestseller in der Hand die Spekulationen von einst mit unserer Gegenwart vergleichen.

Vorab muss man sagen, dass die Menschen um 1910 berauscht waren von den Gedanken an Zukunft und Fortschritt. Fast alles schien ihnen denkbar und bald auch machbar. Dafür waren im wesentlichen zwei Faktoren verantwortlich: die noch junge Luftfahrt sowie die Entdeckung des Radiums.

Ein paar Prognosen im einzelnen:

Radium — das Wundermittel

Das Radium hatte das Forscher-Ehepaar Curie entdeckt. Dieses strahlende Element galt als unfehlbares Heilmittel. So glaubte man, mit Radium den Alterungsprozess des Menschen aufhalten, das Pflanzen-Wachstum beschleunigen und die Welt beleuchten zu können. Dr. Hustler ließ sich 1910 in seinem Beitrag gar zu der forschen Aussage hinreißen, dass die "Zukunft dem Radium ein Zeitalter völliger Krankheitslosigkeit" zu verdanken hat.

Luftig — Sport, Krieg, Kolonien

Die Luftfahrt steckte 1910 noch in den Kinderschuhen und gab gerade deshalb Anlass zu hochfliegenden Träumereien. Etwa zum Sport, der in 100 Jahren überwiegend in der Luft stattfinden wird — etwa mit den "Luftschwimmern" — und den alten, noch "erdgebundenen Sport" verdrängt. Auch die Kunst wird durch die Luftfahrt umgekrempelt, schließlich können wir jetzt — wie es heißt — die Dinge aus anderer Perspektive sehen. Zudem bieten künftige "Lufthäuser" Domizile in einem prima Klima, das vor allem die Kolonialherren der Zukunft zu nutzen wissen. Und wo wir schon mal beim Okkupieren sind: Auch Kriege werden 2010 gerade in der Luft ausgefochten — mit Luftschiffen allerdings, nicht mit den "Starrflüglern". Weil aber Luftschiffe dem Staat teuer zu stehen kommen, wird dieser in 100 Jahren keine eigene Luftkriegsflotte unterhalten, sondern (praktischerweise) bei Bedarf die riesige Menge privater Luftschiffe beschlagnahmen.

Die Zukunft Europas

Ein Volltreffer: Sämtliche europäische Staaten werden sich zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, heißt es. Und eine gemeinsame Verfassung wird einen Krieg untereinander unmöglich machen. Ein Traum von damals, der freilich erst nach zwei Weltkriegen Wirklichkeit werden konnte.

Die Zukunft der Frau

Gruselig: Die Emanzipation dachte man sich für 2010 so: "Der männliche und weibliche Typus werden in hohem Grade verschmolzen"; sie werden nur kenntlich durch die unterschiedliche Kleidung. Alles ist zweckmäßig geregelt: sechs Stunden Schlaf, sechs Stunden Arbeit, seche Stunden Parlament, sechs Stunden Gesellschaftsleben. George Orwell lässt grüßen.

Wie steht es um Frieden?

Bertha von Suttner hat für das Buch eine visionäre Geschichte geschrieben: 2010 werden die Vernichtungswaffen so gewaltig sein, dass jeder Kampf, bei dem per Knopfdruck Menschen und Häuser pulverisiert werden können, Selbstmord wäre.

Die neue Kommunikation

Der größte Volltreffer. Die drahtlose Telegraphie wird weitergedacht. Das Ergebnis: Ein "Wunder der Kleinmechanik", genauer: ein "Telephon in der Westentasche".

Das Buch über die Welt in 100 Jahren ist ein guter Gradmesser für die Gültigkeit von Zukunftsaussagen. Sicher, das Instrumentarium heute ist umfassender. Aber das werden die Menschen damals auch von ihrer Methodik gesagt haben. Die große Erkenntnis dieses Buches liegt vielmehr darin: Der Blick ins Künftige ist Ausdruck unserer Sehnsucht, das Ungewisse irgendwie in die Griff zu bekommen. Alle Berechnungen sind aber Projektionen; sie bleiben doch immer nur das Produkt unserer eigenen, gegenwärtigen Vorstellungswelt. Auch darum sagt das Buch leider nichts über den Fußballweltmeister von 2010. Denn an eine WM dieser "erdgebundenen Sportart" war 1910 noch nicht zu denken.

(RP)
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