Der neue Lenz – aus ferner Zeit

DÜSSELDORF · Der 82-jährige Autor Siegfried Lenz hat die Geschichte einer jungen und unglücklichen Liebe geschrieben. "Schweigeminute" heißt die Novelle. So ganz gelungen ist sie nicht. Ab heute im Buchhandel erhältlich.

Siegfried Lenz: Aus dem Leben des Schriftstellers
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Aus dem Leben des Schriftstellers Siegfried Lenz

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Die Schweigsamsten unter uns Deutschen dürften dieser Tage wohl die Literaturkritiker gewesen sein. Ein unbedachtes Wort gegenüber Dritten — und zack: Schon könnten 100 000 Euro fällig werden. So hoch nämlich hat der Verlag Hoffmann und Campe das "Strafmaß" für all jene Journalisten angesetzt, die vor dem offiziellen Erstverkaufstag die neue Novelle von Siegfried Lenz besprechen.

Solche Geheimhaltungsverpflichtungen sind Inszenierungen des Literaturbetriebs. Beim neuen Lenz hat das verordnete Stillschweigen nichts mit Qualität zu tun, allenfalls mit dem Titel: Die Novelle des 82-Jährigen heißt nämlich "Schweigeminute".

Doch worum geht's — jetzt, da frank und frei und straflos übers Werk geplaudert werden darf? Um eine überschaubare und bei Lenz selbstredend unglückliche Liebesgeschichte zwischen dem 18-jährigen Schüler Christian und seiner Englischlehrerin Stella, die noch "schülerhaft" aussieht und mit diesem optischen Bonus die gesellschaftlichen Verwerfungen halbwegs in Grenzen hält.

Lesend finden wir uns irgendwo an der norddeutschen Küste wieder, an einem Ort namens Hirtshafen und zu einer Zeit, die grob mit den Siebzigern zu datieren wäre. Und hier wird das alte, doch stets neue und aufregende Lied angestimmt — von Christian, der Stella liebt, und von Stella, die wahrscheinlich auch Christian liebt. Bis der Tod dem Glück ein finsteres Ende setzt: Bei einem Schiffsunfall kurz vor dem Hafen wird die Lehrerin verunglücken und kurz darauf im Krankenhaus sterben.

Als die Novelle einsetzt, ist alles schon geschehen. Reden werden in der Schulaula gehalten, Worte der Trauer über den unerwarteten Tod der Pädagogin gesprochen. Und Christian erinnert sich in der Schweigeminute seiner großen Liebe: der unbeschwerten Momente in der Wellblechhütte auf der Vogelinsel wie der Erfahrung, wenn im gemeinsamen Bett das Kopfkissen nur einen Kopfabdruck zeigt, wie es so diskret heißt.

Die Geschichte solcher intimen Nähe ist nicht typisch für Lenz. Eher schon der spröde Realismus, mit dem all das erzählt wird, die Schwermut, die das Leben meint und die sich bald wie schwere Patina über die Seiten legt. Der Erzählfluss wird früh zum Rinnsal, der 128 gedruckte und 500 gefühlte Seiten nähren muss. Eine ziemlich zähe Angelegenheit, die das anbietet, was Lenz oft geboten hat: all die großen Moralgeschichten mit ihren vielen Einzelgängern und Sonderlingen, deren Heimatliebe, Schule als fehlgeleitete Lehranstalten, die Pflichten des Lebens, die Pfade der Entsagung. Garniert wird das mit Symbolen und allerlei Verstrickungen, die so aufdringlich sind, dass man zu verstehen beginnt, warum Siegfried Lenz auch ein beliebter Schulbuchautor ist. So verunglückt Stella mit dem Schiff "Polarstern" ausgerechnet an jenen urzeitlichen Findlingen, die Christians Vater — ein so genannter Steinfischer — dort jüngst versenkt hat. Und so weiter.

Erstaunlich bleibt auch Lenz' Vorliebe für Ich-Erzähler, wo er doch dieser eingeschränkten Perspektive zutiefst misstraut. In "Schweigeminute" schickt er den jungen Christian ins Rennen, der wie einst Siggi in "Deutschstunde" von 1968 zur totalen Zeugenschaft verdammt ist. Alles muss er wissen und in Erfahrung bringen, überall muss er flink zur Stelle sein. Ein ziemlich anstrengender und mitunter unfreiwillig komischer Job wird das: Ein nächtliches Gespräch seiner Eltern muss Christian bei halb offener Tür "zufällig" belauschen, er schleicht durch Vorgärten und späht in Küchen, wird in Hochsee-Konferenzen eingeschleust und muss bei der titelgebenden Schweigeminute in all seiner Trauer auch noch Lehrer und Mitschüler beobachten und über 50 Seiten beschreiben.

Lenz, so hat es jüngst Marcel Reich-Ranicki beschrieben, ist ein Erzähler "mit guten Manieren". Doch das geht auf Kosten jeder Lebendigkeit: Fast keusch wird von der jungen Liebe erzählt, brav, steril, irgendwie nur bürokratisch. "Ich streifte ihren Badeanzug ab, und sie ließ es geschehen, sie half mir dabei, und wir liebten uns dort in der Mulde bei den Kiefern." Das war es dann. Aber sind das die Erinnerungen eines 18-Jährigen an die erste große Liebe? Das ist bestenfalls ein Schulaufsatz. Die Klassenarbeit über die "Farm der Tiere" hat Christian ordentlich vergeigt, hätte er seine Sommerliebe zum Thema von "Mein schönstes Ferienerlebnis" eingereicht, ein sittsames Wohlwollen wäre ihm sicher gewesen.

Dabei geht es ja nicht um die Darstellung ekstatischer Körperlichkeit; vielmehr um einen authentischen Ausdruck, eine ehrliche Sprache und um Gefühle, die einen jungen Mann, der sich selbst und seinen Platz in der Welt erst finden muss, zu zerreißen drohen. Dazu fehlen Lenz aber die Worte.

Auf verzweifelte Weise ist die Novelle ein altes Buch geworden, das eine Geschichte erzählt, die sich zwar auch früher schon nicht auf diese Weise zugetragen hat, die aber früher so erzählt wurde. Ein Buch aus ferner Zeit, das der Geschichte und ihren Figuren hilf- und sprachlos begegnet. Es hätte sich kein besserer Titel als "Schweigeminute" dafür finden können.

(RP)
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