Sven Kuntze im Interview "Das Thema des Alters ist Verlust"

(RP). Sven Kuntze ist vielen ein Begriff aus der preisgekrönten Reportage "Alt sein auf Probe", in der der ARD-Moderator in ein Seniorenheim einzog, um sich auf seinen Lebensabend vorzubereiten. Nun erscheint sein erstes Buch. Im Gespräch mit unserer Redaktion erzählt Kuntze von seinem Weg als Rentner, den Zipperlein aber auch den Bequemlichkeiten des Alltags.

 Sven Kuntze bei der Gala des Deutschen Fernsehpreises 2008. Er erhielt die Auszeichnung in der Kategorie "Beste Reportage" für "Alt sein auf Probe".

Sven Kuntze bei der Gala des Deutschen Fernsehpreises 2008. Er erhielt die Auszeichnung in der Kategorie "Beste Reportage" für "Alt sein auf Probe".

Foto: ddp

Betroffenheitsliteratur boomt. Doch nicht jedes Buch dieser Sparte lässt sich flott weg lesen. Auch dieses nicht, das das Erstlingswerk eines bekannten Fernsehjournalisten im Ruhestand ist und gleich nach Erscheinen vorne auf die Bestsellerliste gelangte.

 Sven Kuntze in seiner Reportage "Alt sein auf Probe - Ein Neu-Rentner auf Entdeckungsreise".

Sven Kuntze in seiner Reportage "Alt sein auf Probe - Ein Neu-Rentner auf Entdeckungsreise".

Foto: WDR

"Altern wie ein Gentleman — Zwischen Müßiggang und Engagement" fordert vom Leser erhöhte Aufmerksamkeit. Was Sven Kuntze (69) auf 256 Seiten und in 13 Kapiteln aufgeschrieben hat, ist kein in Häppchen verfasster Ratgeber. Es ist vielmehr ein ebenso erzählendes wie analysierendes Buch, das von unterschiedlichen Elementen lebt.

Bei seinen sozialpsychologischen Untersuchungen hat der Flaneur des Alltags die Generation der Vierziger im Visier, die zwischen 1940 und 1955 Geborenen, etwa acht Millionen Frauen und Männer. Dazu gehört auch er, der sich seit dem ersten Tag seines Ruhestandes kritisch beäugt und die Veränderungen geistiger wie körperlicher Art gnadenlos kommentiert.

Die Begleitmusik des Alters ist ein Trauermarsch. Das meint der Autor. So klingt die Grundstimmung des Rentnerdaseins bei ihm eher nach Moll als nach Dur. Am Ende ist es ein verschlüsselter Lebensbericht geworden, angereichert mit Fakten und Anekdoten, kritischen und ironischen Selbstbespiegelungen, mit freimütig preisgegebenen Alltagserfahrungen und -beobachtungen. Kuntze hat gut recherchiert, Einblicke in das Leben von noch älteren Menschen in einem Kölner Altenheim gewonnen. Auch in den USA hat er sich umgeschaut, wo er auf deutlich fröhlichere Senioren traf. Schließlich hat er bis zum letzten Tag seine Mutter begleitet.

Kuntzes Überlegungen umkreisen den ganzen Menschen, lassen weder Äußerlichkeiten noch Befindlichkeiten aus. Die Sehnsucht ist sein Thema wie auch die Sexualität. Sorgen hat einer wie Kuntze offenbar kaum im Leben gehabt, insofern ist er typischer Vertreter der von Frieden, sozialer Sicherheit und zunehmendem Wohlstand verwöhnten Generation.

Die Abrechnung mit dieser Generation fällt nicht so gnädig aus. Die 68er wie er sind Ichlinge, schreibt er, die viele Schulden und wenige Kinder hinterlassen. Die sich der Zukunft nicht gestellt haben und egoistisch Selbstverwirklichung betrieben.

Kuntzes Sprache ist sachlich und pointiert, feuilletonistisch angereichert. Er verletzt nie und niemanden, er bleibt selbst in den heikelsten Passagen dem Buchtitel verpflichtet und elegant. Bilanzierend meint er zum Alter: "Das einst üppige Leben wird zur bloßen Existenz."

Im Interview mit unserer Redaktion sprach Kuntze darüber, wie er das Schreckgespenst "alt werden" am eigenen Leib erfährt. Die Beschwerlichkeiten des Alltags und das ein und andere Zipperlein gehören ebenso dazu, wie auch die Annehmlichkeiten des Rentnerdaseins.

Wann haben Sie sich zum ersten Mal alt gefühlt in Ihrem Leben?

Kuntze Vor zwei Jahren, da war ich 67 Jahre alt. Seitdem spüre ich, dass die Sinne schwächer werden. Man sieht nicht mehr so gut, die Treppen werden steiler, die Einkaufstüte wird schwerer. Ich hatte auch einen Hörsturz.

Manifestieren sich die Alterserscheinungen mehr im Kopf oder im Körper?

Kuntze Der Körper meldet sich in seinen zunehmenden Begrenzungen zu Wort. Man wird steifer, langsamer. Der Körper ist jedenfalls der Auslöser. Ich habe das so nicht für möglich gehalten.

Warum?

Kuntze Weil damit die Einsicht verbunden ist, dass die Entwicklung unumkehrbar geworden ist.

Hat Ihnen das Angst gemacht?

Kuntze Die Begleitmusik des Altwerdens ist ein Trauermarsch. Von Angst will ich nicht reden, aber von der Furcht, verletzlicher, empfindlicher, schadhafter zu werden und dass die Sinne verloren gehen. Altwerden und Altern ist einfach Mist.

Erinnern Sie sich an Ihren letzten Arbeitstag in der Fernsehredaktion und an Ihren ersten Tag als Rentner?

Kuntze Ja, ich erinnere mich sogar sehr genau, es war der 31. Mai 2007, ein Mittwoch. Ich habe noch die Tagesschau gemacht und dann tschüss gesagt. Das war's!

Und wie war der nächste Tag?

Kuntze Das Leben wird zur Baustelle. Man wacht auf und erkennt, was für ein endlos freier Tag vor einem liegt, den muss man sich neu zusammenbauen. Die sicheren Leitplanken des bisherigen Lebens sind verschwunden. Ich habe diese Freiheit als ein kostbares Geschenk empfunden.

Dann haben Sie gleich wieder Arbeit angenommen bei Anne Will?

Kuntze Was ein Fehler war. Plötzlich hatte ich sie wieder: die Konferenzen, die Zwänge, die endlosen Debatten. Nach sechs Wochen habe ich das beendet. Ich hatte lange genug fremdbestimmt gearbeitet.

Haben Sie auch äußerliche Befreiungsaktionen durchgeführt? Immerhin mussten Sie als Gesicht und Stimme der ARD stets akkurat im Studio und zu Terminen erscheinen.

Kuntze Oh ja. Ich kann das nur jedem empfehlen unter dreierlei Gesichtspunkten. Der Krawattenzwang ist weg, was der Bequemlichkeit dient. Zur nachlassenden Beweglichkeit passen Schuhe ohne Schnürsenkel. Und dass man die Oberhemden nicht mehr zum Bügeln bringen muss, hat wirtschaftliche Vorteile.

Tut es weh, wenn man von der Wichtigkeit eines Fernsehkorrespondenten in die Allerwelts-Grauzone stürzt, wenn der Briefkasten nicht mehr vor Einladungen überquillt und die Menschen einen nicht mehr erkennen?

Kuntze Ich bin nicht mehr auf Sendung, man erkennt mich nur noch selten auf der Straße. Aber das brauche ich auch nicht mehr. Was ich mir allerdings wünsche, ist, eingeladen und erwartet zu werden, um dann nicht zu kommen.

Haben Sie noch Kontakt zu den Politikern, mit denen Sie über lange Jahre regelmäßig zu tun hatten?

Kuntze Nein. Das war, von wenigen Ausnahmen abgesehen, stets eine professionelle Beziehung und der Tatsache geschuldet, dass ich Fernsehzeit zu vergeben hatte. Über die verfüge ich nicht mehr. Damit ist auch das Interesse an meiner Person erloschen.

Besitzen Sie einen Rentnerpass?

Kuntze Ja, aber ich habe ihn noch nie eingesetzt, ich mag das nicht so.

Sind Sie zu eitel, um sich als Rentner zu outen?

Kuntze Es hat sicher was mit Eitelkeit zu tun, aber ich bin normal eitel.

Wie haben Sie es geschafft, den Alltag, das Dasein neu zusammenzusetzen?

Kuntze Sie haben plötzlich zehn Stunden vor sich und sind verantwortlich für jeden Augenblick. Das hat gut geklappt. Ich habe ein Jahr gar nichts getan. Das war eine Superzeit. Ich konnte tun, wovon ich früher immer nur geträumt habe.

Zum Beispiel?

Kuntze Wenn ich am Café Einstein, dem Berliner Szenetreff, vorbeiging, habe ich oft neidvoll auf die Leute geschaut, die dort am helllichten Tag zusammensaßen. Heute kann ich mich auch ins Café setzen oder mich stundenlang in Buchläden herumtreiben, Museen besuchen, Pilze sammeln oder einkaufen gehen. Alles, was das Leben halt so bietet.

Was markiert besonders diese neue Zeit in Ihrem Leben?

Kuntze Das Nickerchen zu allen Tageszeiten.

In Ihrem Buch sprechen Sie von Sehnsuchtsschüben im Alter. Wonach sehnen Sie sich?

Kuntze Viele meinen, sie müssten im Alter noch mal was ganz Neues mit ihrem Leben anfangen: mit dem Rucksack durch die USA ziehen, den Segelschein machen, weitab eine neue Heimat suchen. Ich habe gelegentlich Fernweh, aber das vergeht wieder.

Und was beschäftigt Sie an Ihrem Lebens-Abend?

Kuntze Unter anderem die Suche nach Gewissheit. Manche Menschen haben eine tiefe Begabung zur Spiritualität, eine Art innere Gegenwelt. Mir fehlt das. Ich hätte gerne die Möglichkeit, mich dafür oder dagegen zu entscheiden. Ich empfinde das als ärgerlichen Mangel.

Wie glücklich vergeuden Sie die Tage?

Kuntze Im Gegensatz zu früher verfliegen sie. Im Beruf dagegen vergingen sie hin und wieder außerordentlich zäh.

Wie stark setzen Sie sich mit dem Tod auseinander?

Kuntze Ich halte mich an Epikur: Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr. Nein, ich habe keine Angst vor dem Tod.

Immer mehr liebe Menschen sterben, muss man sich im Alter zunehmend mit Abschied auseinandersetzen?

Kuntze Eher mit Verlust. Verlust ist das große Thema des Alters, man verliert nicht nur Freunde, sondern Erinnerungen, Körperfunktionen — und man verliert auch Zukunft.

Nimmt die Hoffnung ab?

Kuntze Ja. Denn im Alter hofft man meist nur noch in der Negation, dass Dinge nicht eintreten mögen. Das bislang unauffällige Attribut "noch" beginnt seine bedrohliche Karriere: Dies und jenes kann ich — noch! Da wird man sich jedes Mal der eigenen Grenzen bewusst.

Wie verändert sich Ihr Blick aufs Alter, seit Sie Rentner sind?

Kuntze Die Verdrängung wird zum wichtigsten Instrument des täglichen Lebens. In der Zwischenzeit weiß ich die virtuos zu handhaben. Sie löst zwar keine Probleme, aber sie macht den Augenblick erträglich. Darauf kommt es in zunehmendem Maße an. Und wenn man zum Schluss wie mein ehemaliger Chefredakteur Friedrich Nowottny über sein zurückliegendes Leben sagen kann: Junge, mehr war wirklich nicht drin, dann darf man zufrieden sein.

Welche Rolle spielt die eigene Familie in der Reflexion Ihres Alters?

Kuntze Mein Vater ist nicht alt geworden, meine Mutter ist nun auch gestorben. Meine zwei Töchter leben weit weg von mir in neuen Familien. Ich bin nur in geringem Ausmaß ihr sozialer Vater. Das ist schmerzhaft. Heute zahle ich den Preis dafür, dass ich die Familie nicht zusammengehalten habe. Das kann man bereuen!

Ihre Tochter Sofi, so schreiben Sie in Ihrem Buch, hat Ihnen und Ihrer Generation schwere Vorwürfe gemacht. Hat die Generation der 68er zu egoistisch gehandelt?

Kuntze Wir hatten eine Auseinandersetzung über das Erbe, das meine Generation hinterlässt: Schulden, Atommüll, Klimawandel, Kinderlosigkeit. Sie würde das Erbe gerne ablehnen. Leider geht das ja nicht. Ich denke schon, dass meine Generation bei schonungsloser Betrachtung jeden Grund hat, sich zu schämen für diese Hinterlassenschaft.

Sind wir nicht alle daran schuld, dass wir plötzlich dastehen und unser Land nicht auf die alte Gesellschaft vorbereitet ist?

Kuntze Sicher tragen wir alle Schuld. Aber den Schlendrian haben nicht unsere Eltern, sondern den haben wir eingeführt.

Ist die Atomdebatte wichtiger als die Demografie-Debatte?

Kuntze Weltweit herrscht ja kein Mangel an Nachwuchs, und wenn es weniger Deutsche geben wird, ist das auf längere Sicht völlig nebensächlich. Es macht nur unseren Kindern und Enkeln in naher Zukunft das Leben schwer, denn die müssen die zunehmende Zahl alter Leute bei erschwerten Bedingungen durchfüttern.

Welche Erlebnisse haben Sie bei Ihren Altenheim-Reportagen besonders überrascht und nachdrücklich beeinflusst?

Kuntze Der Mut, die Würde und die Disziplin, mit der die alten Menschen ihre letzten, oft leidvollen Jahre ertragen haben. Wer Helden sucht, findet sie dort.

Welche Lebensformen würden Sie alten Menschen in Deutschland empfehlen — oder auch zumuten?

Kuntze Auf keinen Fall die einer vereinsamten Einzelexistenz in den eigenen vier Wänden, wie die herrschende Pflege-Ideologie es den alten Menschen einzureden sucht. Dadurch sind millionenfach kleine Guantanamos entstanden. Das ist der eigentliche Skandal des Alterns in diesem Land. Die Gesellungsform der Zukunft für alte Menschen muss die des selbstverwalteten, betreuten Wohnens sein mit Sport und Kultur im Angebot.

Warum haben Sie dieses Buch geschrieben? Und überrascht Sie der Erfolg?

Kuntze Aus Zufall, Neugierde, sanftem Druck und Pflichtbewusstsein. Mit dem Erfolg hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.

Annette Bosetti führte das Gespräch

(RP)
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