Schirrmacher sah ihn zwei Stunden vor seinem Tod Beim Namen Günter Grass wurde Marcel Reich-Ranicki hellwach

Am Mittwochnachmittag starb Deutschlands großer Literaturkritiker Marcel-Reich-Ranicki. Frank Schirrmacher, Herausgeber der "FAZ" besuchte ihn noch zwei Stunden vor seinem Tod im Pflegeheim. Als der Name Günter Grass fiel, habe der 93-Jährige sofort die Augen geöffnet.

Um 16.01 Uhr schrieb der Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Frank Schirrmacher, beim Kurznachrichtendienst Twitter folgenden Text: "Marcel Reich-Ranicki ist im Alter von 93 Jahren gestorben." Schirrmacher ergänzte zwei Minuten später: "Wir trauern alle. Noch vor 2 Stunden habe ich ihn besucht."

Wir trauern alle. Noch vor 2 Stunden habe ich ihn besucht.

— frankschirrmacher (@fr_schirrmacher) September 18, 2013

Schirrmacher dürfte der Erste gewesen sein, der Reich-Ranickis Tod im Internet vermeldete. Kurze Zeit später wurde der Autor und Internet-Experte Sascha Lobo auf die Meldung aufmerksam und veröffentlichte sie erneut. Bis zum frühen Abend wurde der Text mehr als 1000 Mal weiterverbreitet.

Der "FAZ"-Mitherausgeber hatte den 93-jährigen ehemaligen Literaturchef des Blattes am Mittwoch noch gesehen: "Um 14 Uhr hatte ich ihn noch besucht. Sein Sohn Andrew war an seinem Bett im Pflegeheim, wo er seit Tagen, seit Wochen war. Marcel Reich-Ranicki erkannte einen", schrieb Schirrmacher in seinem Nachruf.

Er wollte sich noch aufrichten

Auch im Video erzählt er von seinem Besuch im Pflegeheim. Reich-Ranicki schlief, da habe er ihn angesprochen: "Herr Reich-Ranicki, wir brauchen Sie, der Grass hat wieder was angestellt." Da sei er plötzlich voll präsent gewesen und habe sich noch aufrichten wollen. Die Pflegerinnen hielten ihn zurück.

Schirrmachers Erlebnis lässt erahnen, welch leidenschaftlich streitvoller Geist Reich-Ranicki war. Der Name "Grass" mobilisierte in ihm offensichtlich noch einmal alle Kräfte. Zwischen den beiden war es zum Zerwürfnis gekommen, nachdem Reich-Ranicki Grass' Roman "Ein weites Feld" als völlig missraten kritisiert hatte. Auch wegen Grass' umstrittenen Israel-Gedichts gerieten die beiden aneinander. Reich-Ranicki schimpfte wie gewohnt drastisch, dies sei " ein ekelhaftes Gedicht", das politisch und literarisch wertlos sei,.

Er sei vielmehr als ein Literatur-Kritiker gewesen, würdigte ihn nun Schirrmacher. "Das ist jemand gewesen, der nach diesen Schrecken, die er erlebt hat, der Verfolgung, der Vernichtung seiner Familie, des völligen moralischen Kollaps der Deutschen zurück kam und an die Kultur glaubte."

Anteilnahme und Bestürzung

Im März diesen Jahres hatte der seit längerem angeschlagene Literaturkritiker seine Krebserkrankung öffentlich gemacht. Seine Frau Teofila starb bereits im April 2011 im Alter von 91 Jahren.

Autoren und Politiker jeglicher Couleur reagierten am Mittwoch mit großer Anteilnahme und teils Bestürzung. "Er, den die Deutschen einst aus ihrer Mitte vertrieben haben und vernichten wollten, besaß die Größe, ihnen nach der Barbarei neue Zugänge zu ihrer Kultur zu eröffnen", erklärte Bundespräsident Joachim Gauck. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) würdigte Reich-Ranicki als "unvergleichlichen Freund der Literatur, aber ebenso der Freiheit und der Demokratie".

Der scharfzüngige "MRR", der in Polen als Sohn einer jüdischen Familie geboren wurde, wuchs in Berlin auf. Zusammen mit seiner Frau überlebte er das Warschauer Ghetto und kehrte 1958 nach Deutschland zurück. Die letzten Wochen vor seinem Tod hatte der sehr gebrechliche Reich-Ranicki in einem Frankfurter Wohnstift verbracht. Er lag zuvor mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus.

Hahn spricht von einem "Weltbürger"

Einem Millionenpublikum wurde der Kritiker mit der ZDF-Sendung "Das Literarische Quartett" bekannt, die er seit 1988 fast 14 Jahre lang moderierte. Kollege Hellmuth Karasek bezeichnete seinen Freund als "genial". Die Autorin Ulla Hahn sah in ihm einen "Weltbürger". Er habe "uns die alles überstrahlende Macht großer Literatur vorgeführt", schrieb auf der Internetseite der "FAZ".

Legendär wurden seine öffentliche Kontroversen mit prominenten Schriftstellern wie Günter Grass oder Martin Walser. Seine Autobiografie "Mein Leben" wurde zum Bestseller. Reich-Ranicki, der unter den Nazis nicht studieren durfte, erhielt für seine Arbeit zahlreiche Ehrungen und neun Ehrendoktorwürden - zuletzt von der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Tel Aviv.

(dpa)
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