Augusten Burroughs: Krass!

Als seine einzige Freundin ihm rät, er solle seine Lebensgeschichte aufschreiben, weiß der 14-jährige Augusten, dass ihm kein Mensch seine Erlebnisse glauben würde. Denn unfassbar schrecklich und absolut "krass" ist das, was Augusten Burroughs in seinem zweiten Roman über die eigene Jugend schreibt, in der Tat.

Schon Augustens frühe Kindheit könnte den ersten Teil eines veritablen Horrorfilms abgeben. Der alkoholabhängige Vater und die psychisch kranke Mutter liefern sich verbale und handgreifliche Schlachten über den Kopf ihres Sohnes hinweg. Augusten steht immer mitten in der Schusslinie. Seine Machtlosigkeit und seine Ängste kompensiert der Siebenjährige mit einer übertriebenen Eitelkeit. Eine perückenhafte Frisur und die exzentrische Kleiderwahl geben ihm ein Gefühl der Kontrolle, das ihn davor bewahrt, selbst verrückt zu werden.

Seine regelmäßig von heftigen psychotischen Schüben heimgesuchte Mutter stürzt sich nach der Scheidung in die Arme des dubiosen Psychoanalytikers Dr. Finch, in dessen heruntergekommenem Haus auch Augusten Zuflucht nehmen muss, als seine Mutter einen Selbstfindungstrip inszeniert. Das Haus des Doktors ist ein wahres Panoptikum der Fürchterlichkeiten.

Kinder, entfernte Verwandte und Patienten bevölkern die Etagen, einer ist verrückter als der andere. Gespielt wird mit Elektroschockgeräten, Mahlzeiten bestehen oft aus Hundeleckerlis und Körperpflege ist ein Tabu. In Dr. Finchs Gruselkabinett gehören Bibel-Dips, bei denen er wahllos ein Wort aus dem Buch fischt, das er als Antwort auf lebenswichtige Fragen deutet, ebenso zum Alltag wie die Interpretation der getrockneten Stuhlgangformationen der Hausbewohner. Dass Augusten in dieser fürchterlichen Umgebung nicht auch durchdreht, grenzt an ein Wunder.

Erträglich wird diese Überlebensgeschichte durch Burroughs bedächtigen Stil. Er schreibt aus der Sicht eines Heranwachsenden, der die Absonderlichkeiten registriert und ablehnt, aber nicht daran zerbricht, sondern seine Individualität inmitten des Chaos auslebt. Daraus ergibt sich eine unfreiwillige Komik, durch die das Beschriebene für den Leser keineswegs den Schrecken verliert. Man kann sich aber sehr amüsieren über die Ereignisse im Hause Finch, zumal klar ist, dass Augusten davon kommen wird. Schließlich gelingt es ihm, ohne Selbstmitleid oder falsches Pathos mit seiner grauenhaften Kindheit abzurechnen. () (Rowohlt Verlag, ISBN 3-498-00632-0, 366 Seiten, 19,90 Euro)

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