Eins der schönsten Bücher des Frühjahrs Abschied vom dementen Vater

Düsseldorf (RP). Es ist eins der schönsten Bücher dieses Frühjahrs: Arno Geigers Buch über seinen an Alzheimer erkrankten Vater. "Der alte König in seinem Exil" ist ein anrührendes, sprachlich faszinierendes und mitunter auch komisches Buch über eine fast tabuisierte Krankheit.

 Der österreichische Schriftsteller Arno Geiger hat einfühlsam über die Erkrankung seines Vaters geschrieben.

Der österreichische Schriftsteller Arno Geiger hat einfühlsam über die Erkrankung seines Vaters geschrieben.

Foto: ddp

Wer das rundum Gelungene und das so sehr Geglückte dieses Buches ermessen will, der greife nur kurz zu dem thematisch verwandten Buch von Tilmann Jens. Auch der hat über seinen dementen Vater geschrieben; aber es war die Abrechnung mit einem inzwischen Wehr- und Hilflosen. Der Vater des österreichischen Schriftstellers Arno Geiger ist ebenfalls an Alzheimer erkrankt. Und auch Arno Geiger hat jetzt über diesen existentiellen Ausnahmezustand geschrieben, über eine Krankheit, die ein Netz über ihr Opfer zieht, bedächtig und unauffällig. Ohne dass seine Familie es merkte, war der Vater schon tief darin verstrickt.

Dieses Buch ist ergreifend, aber auch respekt- und würdevoll; es ist tiefschürfend und — ja doch — sogar heiter und komisch. Arno Geiger kommt ganz ohne Klagen und Anklagen aus, er ist nicht apathisch vor Kummer. Vielmehr ist es bestürzend und witzig zugleich, wenn der Sohn den Papa fragt, ob er überhaupt wisse, wer er sei. Und darauf der Vater: "Als ob das so interessant wäre."

Diesen Ton zu treffen, mit dem die Krankheit gebannt wird und der dem Kranken seine Würde wahrt, ist eine Meisterleistung. Natürlich kennt auch Geiger das Gefühl jener Hilflosigkeit, wenn der Demente in sein "autonomes Robinson-Crusoe- Dasein" flieht und uns fremd wird. Aber er lässt sich davon nicht beherrschen, das Alzheimer-Drama versperrt nicht den Blick für andere Beobachtungen. Als sich plötzlich alle um den kranken Vater kümmern müssen, schreibt der Sohn: "Die Krankheit des Vaters hielt den Familienzerfall auf." Diese Krankheit wandelt also nicht nur den Vater, sie stellt mit allen etwas an. "Wir brachen jetzt alle zu einem anderen Leben auf", heißt es so lakonisch und klar und ungewöhnlich.

Für Arno Geiger bedeutet das: Eine neue, bislang nicht gekannte Nähe stellt sich zum Vater ein, er solidarisiert sich mit ihm, lacht mit ihm wie auch über ihn. Sechs Jahre hat sich der Autor mit dem Buch Zeit gelassen, eine Ewigkeit für einen Autor, vielleicht nur ein Wimpernschlag für den Gedächtnislosen. Sechs Jahre, in denen er hoffte, es fertigzustellen, bevor der Vater stirbt. "Ich wollte nicht nach seinem Tod von ihm erzählen,ich wollte über einen Lebenden schreiben", heißt es.

Das ist der Grundimpuls dieses Rückblicks und zugleich der literarische Ansatz, von dieser unheimlichen Krankheit aus weiterzudenken und ihr Einsichten zu entlocken wie diese: "Ein Mangel an Möglichkeiten hat manchmal etwas Befreiendes. Ich stelle mir das vor wie das Warten an einer kleinen Bahnstation in Sibirien, kilometerweit abseits der nächsten Siedlung, man sitzt und knackt Sonnenblumenkerne. Irgendwann kommt bestimmt ein Zug. Irgendwann wird etwas passieren. Bestimmt."

Die Lebens- und Krankengeschichte aber umkreist unaufhörlich ein Motiv: das der Heimat und der Rückkehr, das für den Vater nach Kriegsende zum Daseinsfundament wurde. Für den jungen Soldaten, der dem Lazarett mit viel Glück entkam und Gemeindeschreiber wurde, hatte diese Heimatgewissheit einen Namen: das Dörfchen Wolfurt. Jene Heimat aber ist nicht mehr greifbar. In der Welt, in der alles fremd ist, wird August Geiger von einer tiefen Heimatlosigkeit geschüttelt; das Heimweh wird plötzlich zum Abgrund.

Was das für den dementen Menschen bedeutet, begreift Arno Geiger erst nach und nach. Denn der Wunsch, nach Hause zu gehen, enthält etwas zutiefst Menschliches. Heimat als Heilmittel gegen ein nicht zu enträtselndes Leben, so dass Wolfurt für einen Ort steht, an dem Geborgenheit möglich sein könnte. Zum Schluss hat der Vater diesen Ort des Trostes nur "Zuhause" genannt — der Gläubige, so Arno Geiger, nennt ihn Himmelreich.

Was für ein unglaublich zartes und kluges Buch, und wie unaufgeregt über die Lektionen des Alterns und die Einübung des Sterbens erzählt wird. Was immer noch in diesem Frühjahr auf dem Buchmarkt erscheint: "Der alte König in seinem Exil" ist das beste Buch eines deutschsprachigen Autors in der ersten Jahreshälfte. Und dass es nicht mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geehrt wird, ist schlichtweg unvorstellbar. Ein Buch übrigens, das gegen Ende mit einem letzten großen, gleichwohl unangestrengten Kunstgriff mit seinem Thema verschmilzt: "Es heißt, jede Erzählung sei eine Generalprobe für den Tod, denn jede Erzählung muss an ein Ende gelangen."

(RP)
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