Rio De Janeiro Brasiliens Kultur in Zeiten der Proteste

Rio De Janeiro · Brasilien will als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse zeigen, dass die stolze Nation nicht nur in der Wirtschaft und im Sport eine Großmacht ist, sondern auch Literatur kann. Doch aktuell drängen andere Fragen auf die Tagesordnung.

"Was ist denn da los in Brasilien?" Diese Frage hört Luiz Ruffato, einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller des Landes, derzeit häufig. Von außen als sechstgrößte Wirtschaftsnation der Welt wahrgenommen, sähen die Brasilianer ihre Heimat derzeit in einem anderen Licht, erklärt Ruffato in einem Blog auf der Seite der Frankfurter Buchmesse: "Wir haben die schlechtesten öffentlichen Gesundheits- und Bildungssysteme der Welt." Korruption durchziehe alle Sphären der Macht und des Privatlebens aller Brasilianer.

Voller Wut protestieren die Menschen seit einigen Monaten auch dagegen, dass Milliardenbeträge für die Fußball-Weltmeisterschaft und die Olympischen Spiele statt für Investitionen in die marode Infrastruktur der Städte ausgegeben werden. Es sind vor allem Mitglieder der Mittelschicht, die auf die Straße gehen. Wirtschaftlich streben sie nach oben, sehen sich jedoch zu häufig ausgebremst.

Auch der Literaturbetrieb reagiert auf den unerwarteten Widerstand – wenn auch verhalten und ebenso vielstimmig, wie sich die Proteste äußern. Immerhin: Spontan setzten im Juli die Organisatoren des bedeutenden Literaturfestivals Flip im beschaulichen Kolonialstädtchen Paraty – zwischen Rio und Sao Paulo und damit weitab von den Brennpunkten gelegen – Diskussionsrunden zu den Unruhen an.

Man könne die Dimension des neuen Prozesses noch nicht einschätzen, sind sich Vertreter aus der Literaturszene einig. Die Meinungen gehen aber bei der Frage, welchen Anteil die Kulturschaffenden haben, deutlich auseinander. Der Widerstand gegen die verkrustete Bildungspolitik sei auch von kleinen Bibliotheken ausgegangen und zeige sich jetzt auf der Straße, meint Gabriela Gibrail von der Assoziation Casa Azul, die das Flip-Festival mitorganisiert.

Die Kulturszene sei am Entstehen der Proteste nicht beteiligt gewesen, entgegnet Luiz Ruffato. Viele Schriftsteller seien von der Entwicklung genauso überrascht worden wie die Eliten, aus denen sie kommen. Nach der "katharsisartigen Explosion" gehe es nun darum, Schwerpunkte zu finden, postuliert der Romanautor Ronaldo Wrobel. Aber schon jetzt gebe es große Auseinandersetzungen unter den Demonstranten.

Es scheint, als staune das Land derzeit über sich selbst. Glaubten viele bislang der Erzählung, man gehöre zu den Weltmächten der Zukunft und es gehe nun aufwärts für alle, werden plötzlich Brüche offenbar. Die Wirtschaft läuft nicht mehr so rund wie die Jahre davor. Gleichzeitig nehmen die Menschen Widersprüche deutlich wahr und empören sich darüber. "Brasilien ist erst seit 28 Jahren eine Demokratie", erklärt Ruffato die Unsicherheit. Trotz aller Vielfalt habe das Land noch nicht gelernt, damit umzugehen, fügt Wrobel an.

Der aktuelle Umbruch wird wohl auch die Gespräche an den Ständen des Landes auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober dominieren. Und vielleicht noch für Überraschungen sorgen. Die Liste der deutschsprachigen Neuerscheinungen wird indes kaum auf den Kopf gestellt. Dafür sind die Entwicklungen zu kurzfristig. Immerhin waren die Organisatoren weitsichtig genug, schon vor langer Zeit der Buchmesse ein Motto zu verpassen, das aktueller kaum sein kann: "Brasilien – ein Land voller Stimmen".

Dabei wollen die Ehrengäste neben den Rufen des Protestes und den hierzulande gerne gehörten Klängen von Samba und Bossa Nova vor allem jene Stimmen zu Wort kommen lassen, die Brasilien als ernstzunehmenden Produzenten hochwertiger Literatur charakterisieren. 70 Autoren werden das Land offiziell vertreten, unter ihnen auch Luiz Ruffato, der zusammen mit Ana Maria Machado, der Präsidentin der brasilianischen Akademie der Literatur, die Messe literarisch eröffnen wird.

Ruffato ist ein gutes Beispiel dafür, dass Brasilien mehr als Copacabana, Caipirinha und Weltklasse-Fußball zu bieten hat. Der Autor hat mit seinem Roman "Es waren viele Pferde" bereits im vergangenen Jahr für Aufsehen in Deutschland gesorgt. In Kurzszenen beschreibt das Buch das Leben auf der Schattenseite in der Millionenstadt Sao Paulo.

Jenseits der politisch gefärbten Literatur und der aktuellen Fragen überraschen Autoren wie Michel Laub. In Brasilien geboren, thematisiert er in seinem Roman "Tagebuch eines Sturzes" fiktiv seine Beziehung zu Deutschland. Die Romanfigur begibt sich auf die Suche nach den Spuren des Großvaters, der im Holocaust umkam. im Roman "Hannahs Briefe" führt Ronaldo Wrobel den Leser ins Rio der 20er und 30er Jahre. Der polnische Jude Max Goldmann, der für die Miliz Briefe von Juden ins Portugiesische übersetzt, wird von einer Korrespondenz so gefesselt, dass sich sein Leben ändert.

Vielstimmig will und wird sich das Land also in Frankfurt zeigen. Es dürfte sich lohnen, diese Vielfalt zu entdecken.

(RP)
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