Joe Wright "Bei Tolstoi habe ich mich gefunden"

Der Regisseur von "Anna Karenina" berichtet über seinen Umgang mit dem Historischen, Keira Knightley und den Oscar.

Bretter, die die Weltliteratur bedeuten: Der englische Regisseur Joe Wright gilt nach "Stolz und Vorurteil" und "Abbitte" als behutsamer Erneuerer des Kostümfilms. Nun präsentiert er seine Kinoadaption von "Anna Karenina" — und das auf höchst innovative Weise: Leo Tolstois Roman inszeniert der 42-Jährige als opulente Theaterrevue — mit seiner Lieblingsschauspielerin Keira Knightley im Mittelpunkt.

"Anna Karenina" neu zu verfilmen ist eine enorme Aufgabe. Liegen Ihnen solche Herausforderung besonders?

Joe wright So ist es wohl. Ich fand es tatsächlich an der Zeit, mich selbst herauszufordern. Ich dachte mir, wenn's klappt, ist es wunderbar. Sollte es schief gehen, muss ich mir halt eine neue Arbeit suchen. (lacht)

Zuerst wollten Sie rein naturalistisch drehen. Kurz vor Drehstart entschieden Sie sich dann aber doch für ein Theatersetting und eine Inszenierung in Szenen. Warum diese Verfremdung?

Wright Ich habe mir in Russland und England viele Paläste angeschaut, um richtige Drehorte zu finden. Dabei kam es mir vor, als würde ich mich auf einem Boden bewegen, auf dem bereits viele langgegangen sind. Daher fand ich es an der Zeit, ein Experiment zu wagen: eine unrealistische, bühnenhafte Atmosphäre zu schaffen, eine künstliche Welt, die so nicht zu sehen ist.

Warum lassen Sie "Anna Karenina" auf einer Bühne spielen?

Wright Die russische Gesellschaft hatte etwas Künstliches, sie adaptierte den Pariser Lebensstil. Auch Anna spielt eine Rolle, die ihr nicht mehr entspricht. Daher war das Theater die perfekte Metapher für die Gesellschaft und das Individuum.

Was ist in Ihren Augen der Kern von Tolstois Roman?

Wright Die Geschichte besteht aus recht vielen Handlungssträngen, und die Erzählstruktur ist recht modern. Aber es gibt zwei Hauptstränge, und die bedingen einander: Denn Levins und Kittys Geschichte ist ebenso wichtig wie die von Anna und Wronski! Sie ist das Gegenstück zu Annas Geschichte. Bei Levin und Kitty handelt es sich um eine Liebesgeschichte, bei Anna eher um obsessive Lust.

Sie zeigen aber auch realistische Bilder der russischen Landschaft.

Wright Das ist quasi Teil des Experiments. Bei den beiden Erzählsträngen habe ich Levins Geschichte als Autobiografie gesehen, weil Levin extrem stark mit seinem Schöpfer Tolstoi verknüpft ist. Annas Geschichte sehe ich als Fiktion. Für mich spaltet sich der Roman also in zwei Formen auf: Autobiografie und Fiktion. Deshalb wollte ich für beide eine jeweils sehr andere Ästhetik entwerfen. Levin bot sich besonders an, den bühnenhaften Schauplatz hinter sich zu lassen und die Tür zu einer realistischen Darstellung zu öffnen, da er ein authentischeres, spirituelles Leben anstrebt.

Warum, glauben Sie, kann diese Geschichte — abgesehen davon, dass sie auf einem Klassiker der Literatur basiert — für das heutige Publikum interessant sein?

Wright Weil ich mich in dieser Geschichte wiedergefunden habe. Ich stand kurz vor meinem 40. Geburtstag, dachte darüber nach, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Tolstoi befasst sich mit dem Thema Liebe und Treue — und wie man sich selbst gegenüber authentischer sein kann. Diese Themen sind sehr intim und universell zugleich.

Sie kennen Keira Knightley seit über zehn Jahren. Wie sehr hat sich Ihre Beziehung verändert? Was zeichnet sie aus?

Wright Sie ist jetzt einfach richtig erwachsen. Als wir "Stolz und Vorurteil" gedreht haben, war sie 18, bei "Atonement" 21. Damals hat ihr noch etwas Lebenserfahrung gefehlt. Mir kommt es vor, als würde ich mit zunehmendem Alter weniger vorschnelle Urteile fällen. Vielleicht gilt das auch für andere. Was Keira auszeichnet, ist ihre Furchtlosigkeit vor schwierigen Figuren. Sie mag anspruchsvolle Rollen, die moralisch ziemlich mehrdeutig sind.

Ist es nicht einfacher, mit naiveren Schauspielern zu arbeiten?

Wright Nein, das finde ich nicht! Keira und ich waren uns immer nah, unser Verstand arbeitet sehr ähnlich. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass wir beide Legastheniker sind und in Theaterfamilien aufgewachsen sind. Wir sind fast wie Geschwister. Natürlich streiten wir uns auch, manchmal hasst sie mich. Ich kann sie nicht so richtig hassen

Dieser Film könnte sicher einige Preise gewinnen. Setzen Sie sich damit im Vorfeld auseinander?

Wright Solche Grübeleien würden mich zu sehr aufregen, und das ist nicht gut für meine Gesundheit. Ich lebe ganz bewusst in London, weil ich Abstand zur Filmindustrie brauche. Die Kunst ist mir wichtiger. Ich habe ein Jahr in L.A. gelebt, bis ich anfing, mich intensiv dafür zu interessieren, was in der Filmindustrie alles los war. Das tut mir nicht gut.

Meinen Sie, dass Keira Knightley einen Oscar bekommt?

Wright Ich finde, dass Keira eine Leistung gezeigt hat, die jede Anerkennung verdient. Aber allein dieses Gedankenspiel führt dazu, dass sich meine Brust verengt.

(RP)
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