Bayreuth Bayreuth: Traurige Götter auf der Route 66

Bayreuth · Frank Castorf inszeniert, Kirill Petrenko dirigiert Richard Wagners "Rheingold" und "Die Walküre" bei den Bayreuther Festspielen.

 Ein schäbiges Motel mit Tankstelle an der Route 66 im mittleren Westen der USA – Szene aus Frank Castorfs Bayreuther Neuinszenierung von Richard Wagners "Rheingold". Auf der Videoleinwand sieht man eine Aufnahme des Gottes Donner, der hier als Kopie des Westernhelden Django auftritt.

Ein schäbiges Motel mit Tankstelle an der Route 66 im mittleren Westen der USA – Szene aus Frank Castorfs Bayreuther Neuinszenierung von Richard Wagners "Rheingold". Auf der Videoleinwand sieht man eine Aufnahme des Gottes Donner, der hier als Kopie des Westernhelden Django auftritt.

Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Gemessen an den Vorschuss-Disteln, mit denen der neue "Ring des Nibelungen" das Publikum zu zwicken drohte, kann Bayreuth zur Halbzeit Entwarnung melden. Regisseur Frank Castorf erweist sich als überaus kundig, vor allem hat er sich aus den vier Werken und den Sängern seine Lieblinge herausgesucht und sich genau überlegt, mit wem er was maximal brillant anstellen kann. Der Rest funktioniert dann ordentlich.

Mit dem Personal von "Rheingold" macht er alles. Es spielt in einem billigen Motel an der Route 66 (Bühnenbild: Aleksandar Denic). Diese Absteige — die Drehbühne zeigt's uns — krönen im Garten eine Wäschespinne, Liegestühle und ein aufblasbarer Swimmingpool, um die Ecke wartet eine fast verfallene Tankstelle auf Kundschaft; an ihrer Kasse serviert ein Kellner Nahrhaftes.

Hungrige Mäuler gibt es zuhauf: Unter den Gästen befinden sich drei als Rheintöchter getarnte Blondinen mit unklarem Berufsstand. Nebenan wohnt ein gewisser Wotan mit seiner Entourage; auch ein Herr namens Alberich hat sich eingemietet; er brüllt proletenhaft herum und steht auf Grillwürstchen mit Senf. Noch derber benehmen sich die Riesen, deren einer als Double von Bud Spencer gern mit einem Baseballschläger im Kassenraum der Tankstelle aufräumt. Weitere nette Zitate? Loge ähnelt Michael Douglas in den "Straßen von San Francisco", Donner ist von Django inspiriert — und Wotan ein schmieriger, schwitzender Mafioso, den aktuell enorme Zahlungsschwierigkeiten plagen.

Diese Leute hat Castorf so liebgewonnen, dass er ihnen in jeder Sekunde mit zwei Handkameramännern auf den Fersen ist — deren Live-Bilder zeigt eine riesige Leinwand über der Bühne. Castorf nimmt in Kauf, dass zwischen diesen Videos und den kleinen Menschen auf der Bühne ein Verdrängungswettbewerb um die Aufmerksamkeit des Betrachters einsetzt. In den lässlichen Momenten sind die Videos pure Ausschnittsvergrößerung, in den geglückten ergibt sich eine geistreiche Zweitmeinung zu Musik und Story.

Ein Beispiel: Während vor der Tankstelle Wotan mit den Riesen die existenzielle Frage verhandelt, ob die Göttin Freia als Lohn für den Bau Walhalls taugt, zeigt uns die Leinwand diese Freia, die fern unseren Blicken auf dem Bett im Motel liegt, sich die Augen aus dem Kopf heult und von ihrer Schwester Fricka getröstet wird: Kopf hoch, Mädchen, das wird schon wieder! Fast unvergesslich später der Moment, da unten die Riesen um das Gold streiten und das Video investigativ glotzt, wie sich Wotan am Dekolleté von Erda zu schaffen macht. Bekanntlich wird er mit dieser Dame eine außereheliche Tochter zeugen: Brünnhilde.

Wo ist denn hier der Weltentwurf? Wo ist der Ring? Was ist das Gold? Wo bleibt die Fallhöhe? Der Wagnerianer hat Ansprüche ans Mythische. Castorf aber misstraut diesem scheinbaren Hochplateau des Gesamtkunstwerks und den angeblich heiligen Momenten; nicht selten lässt er sie unberücksichtigt. Die Flüche des Alberich sind lautstarke, aber flüchtig wirkende Bekundungen, die kaum Reaktionen auslösen.

Ansonsten wird es in diesem neuen "Ring des Nibelungen" um das flüssige Gold gehen: um Öl. An der Tanke findet man es als Motorenöl, im Imbiss als Olivenöl, im Garten als Sonnenschutzöl. Und Walhall ist wie bei Wagner eine Fata Morgana. Liegt es in San Francisco? Am Ende stehen die Götter traurig und desillusioniert auf dem Dach der Tankstelle und gucken in den Himmel.

Bei solcher Griffigkeit des Bilder könnte man befürchten, dass die Musik eine Nebenrolle zu spielen beginnt. Das ist nicht der Fall, im Gegenteil. Beide Ebenen treten vielmehr in eine tiefgründige, alle Sinne fordernde Kommunikation. Das ungemein plastische, auch Pianissimo-Stellen grandios ausleuchtende Musizieren des Dirigenten Kirill Petrenko streift nicht selten den Rang des Sensationellen. Die Dynamik ist extrem aufgespreizt, reich an Schattierungen, und die Zeitmaße sind sehr biegsam. Selbst objektiv ruhige Tempi treten bei Petrenko nie auf der Stelle, sondern sie verflüssigen sich. Auf dieser Woge des Wohllaut surfen die Sänger, dass es eine Lust ist, allen voran Wolfgang Koch als Wotan, Claudia Mahnke als scharf profilierte Fricka und Günther Groissböck als belkantischer Fasolt.

Es war zu erwarten, dass Castorf den "Ring" fragmentieren und durch die Zeiten würfeln würde. "Die Walküre" spielt auf einem aserbaidschanischen Ölfeld mit Förderturm, Geräteschuppen und Plakaten der revolutionären Bewegung. Ein gewisser Josef Stalin trat 1902 in Baku mit viel Lärm und einer Verhaftung seinen Gang in die Geschichte an; davon kündet ein Video mit der Titelseite der "Prawda", und zwar genau in dem Moment, da Siegmund das Schwert Nothung aus einem Baumstumpf zieht. Das ist krass, aber es ist auch toll. Doch nun ist die Atmosphäre der Inszenierung ruhig, leise, tastend, fast blass. Die Ruhe ist aber der Trägheit des Siegmund geschuldet: Johan Botha gibt die Partie mit der eingeschränkten Beweglichkeit des kugelrunden Wagnertenors. Am liebsten sitzt er auf Heuballen, die Sieglinde ihm auf den Boden gewuchtet hat. Wotan ist ein popenhafter Langbartträger, Fricka eine usbekische Prinzessin mit Lederpeitsche. Die Walküren tragen Abendgarderobe, genehmigen sich gern ein Schnäpschen; um gefallene Helden kümmern sie sich nur am Rande (Botschaft eines Videos: Es sind Ölarbeiter mit Vergiftungserscheinungen).

Nachdem Wotan am Ende seine Brünnhilde ergreifend in den Feuerkreis verabschiedet und ihr zuvor mit einem Bärenkostüm bedeutet hat, dass Rettung in Aussicht steht (er meint Siegfried), verflüchtigt sich beim Publikum endgültig die Befürchtung einer inadäquaten Wagner-Sequenz. Verwöhnaroma geht aber auch vom musikalischen Ensemble aus: Catherine Foster ist eine strahlkräftige, mädchenhafte Brünnhilde, Wolfgang Koch ein beeindruckend über Höhen und Tiefen gebietender Wotan, Johan Botha als Siegmund und Anja Campe als Sieglinde erfüllen höchste Ansprüche. Petrenko und das Orchester kreisen abermals auf grandiosem Niveau: Man hört alles, versteht alles, jedes Motiv wird mit einer Liebe ausgeleuchtet, dass der "Monstranzcharakter", von dem Thomas Mann sprach, offenkundig ist.

Wir ahnen jetzt, wie das wird. Wenn nicht alles täuscht, könnte dieser "Ring" in die Geschichte eingehen.

(RP)
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