Barenboims Wunschkonzertsaal

Im Pierre-Boulez-Saal in Berlin soll man das Denken mit den Ohren lernen. Das Publikum ist begeistert: Viele Abende sind ausverkauft.

Musik ist bewegte Luft, sie kann, wie alle Schallwellen, jederzeit die Richtung ändern. Seit einer halben Ewigkeit schon, genauer gesagt, seit 148 Jahren, sind sich darum die Musiker mit den Musikfreunden und die Architekten mit den Akustikern einig, dass ein Konzertsaal, wenn er gut klingen und dazu auch noch gut aussehen soll, schuhschachtelförmig gebaut sein müsse, rechteckig, Länge gleich Breite plus Höhe, mit strukturierten, reflektierenden Wänden - ideal etwa: der Goldene Saal im Wiener Musikverein. Vor kurzem, genauer gesagt, vor 15 Monaten, wurde in Berlin ein kleiner, rundlich-ovaler Konzertsaal in Betrieb genommen, dessen Form, ganz ohne Ecken und Kanten, aus der Vogelperspektive betrachtet an zwei übereinanderkopierte, leicht eingedellte Spiegeleier erinnert. Er sieht gut aus. Er klingt wunderbar. Man hört hier ganz anders als anderswo.

Dieser Saal ist einer von der seltenen Sorte, die ihre Besucher persönlich begrüßen. Man glaubt, man könne, wenn man eintritt, hören, wie er sagt: Schön, dass du da bist! Ein veränderlicher Saal, ein freundlicher, offener, luftiger Saal, er hat eine angenehme Aura. Helles Holz, kinderbunte Sitzbezüge, ähnlich denen, die auch Frank Gehrys Walt-Disney-Hall in Los Angeles zieren. Kein Podium zu sehen, die Musiker, ob Solisten oder Ensembles, agieren im Parterre in der Mitte, quasi im Dotter des Eis, auf Augenhöhe mit der ersten Parkettreihe. Und das Publikum sitzt ihnen so nahe, dass es beim Umblättern helfen könnte. Ja, sogar oben, auf den sanft ausgebeulten, frei schwebenden Rängen ist niemand weiter als 14 Meter von der Musik entfernt.

Es gibt Platz für maximal 680 Zuhörer in diesem 360-Grad-Panorama, das als modulierbarer Saal konzipiert ist. Spielrichtung und Sitzordnung können nach Belieben verändert werden. Jeder Einzelne mag sich dabei als ein Beteiligter fühlen, man blickt in die Noten oder blickt einander in die Augen, wenn man sie nicht gerade geschlossen hat, und wächst so zusammen zu einer die Musik einkreisenden Gemeinschaft. Für die Musiker indes, zumindest für manche unter ihnen, kann diese Entgrenzung auch unangenehm werden, man sieht es ihnen dann sofort an, sie panzern sich mit stoischen Mienen.

Es war just ein Musiker, Daniel Barenboim, der sich diesen Saal genau so gewünscht hatte. Barenboim wollte ein demokratisches Amphitheater implantieren in seine Berliner Barenboim-Said-Akademie, eine ovale Arena sollte es sein, unbedingt. Freund Gehry hatte ihm zunächst, was sonst, ein Schuhkartonformat vorgeschlagen, eingebettet in das Rechteck des alten Opern-Magazingebäudes in der Französischen Straße. Und als sich Barenboim dann durchgesetzt hatte, benannte er seinen Wunschkonzertsaal nach einem anderen Freund, Pierre Boulez, und gab der ersten Saison ein Wunschkonzertmotto mit auf den Weg: "Musik für das denkende Ohr".

Typisch Barenboim. Zitierfähig, aber dialektisch, prima Schlagzeile, aber paradox. Der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts denkt nicht mehr mit dem Ohr, im Gegenteil, er hört mit den Augen. Nachdem nun aber die ersten 140 Konzerte im Pierre-Boulez-Saal stattgefunden haben, kann man zumindest sagen: Vielleicht könnte er es wieder lernen. Gab es nicht einmal eine Zeit, die man als das Zeitalter der klassischen Musik feierte, in der die Tonsetzer neue Formen ausprobierten und die Tonsatzgelehrten von "musikalischen Gedanken" sprachen? Als das Bürgertum sich formierte und nach und nach die schönen Künste für sich eroberte, selbst musizierte, und die Sprache der Musik deshalb besser verstand? Erst später, im 19. Jahrhundert, im Industriezeitalter, als die ersten großen Konzertsäle entstanden, kam für den "musikalischen Gedanken" ein neuer, pragmatischer Begriff auf in den Kompositionsschulen, man sagte jetzt "Thema" dazu, und so halten wir es bis heute. Und was für die Familie daheim, für die Freunde der Haus- und Kammermusik bestimmt war, die Klaviersonaten und Streichquartette, Lieder und Ensembles traten nach und nach ins Licht der großen Öffentlichkeit.

Kammermusik ist eine manchmal brutale Familienangelegenheit. Selbst Streichquartette waren und sind keineswegs allezeit stillvergnügt. Ja, eigentlich kann in diesem vorrevolutionären Genre, das zu Lebzeiten Haydns, Mozarts und Beethovens allmählich aus der Fürstenkammer ins bürgerliche Wohnzimmer übersiedelte, die Zeit zum Raum werden nur unter Umständen allergrößter Nähe.

Wie tuchfühlungsmäßig nahe, das kann man ganz gut nachvollziehen dank der Hauskonzertgemälde des neunzehnten Jahrhunderts, und das weiß oder ahnt man auch heute noch. Nur, dass wir inzwischen gelernt haben, in der Praxis davon zu abstrahieren. Die Trios, Quartette, Quintette, Oktette und Nonette, die Sonaten und Duos sind umgezogen in die Schuhschachtel des modernen Konzertsaals und geben dort den symphonisch-üblichen Frontalmusikunterricht, isoliert auf dem Podium und in Sicherheit gebracht vor dem Publikum - wie umgekehrt das Publikum vor ihnen. Kammermusik hat heutzutage ihr höchsteigenes, eigentümlich distanziertes, intellektuelles Spezialpublikum. Auch das Liedpublikum ist speziell. Auch das Publikum für Neue oder Alte Musik mischt sich normalerweise nicht. Und die modernen Kammermusiksäle, selbst die allerneuesten, etwa der freudlos-müslifarbene, freilich gutklingende in der Hamburger Elbphilharmonie, sind für Familienangelegenheiten eigentlich definitiv zu groß.

Der Pierre-Boulez-Saal dagegen ist zugleich klein und groß genug, um diese historischen Verhältnis erneut umzukehren. Die Preise sind moderat. Das Programm, kuratiert von dem dänischen Musikmanager Ole Bækhøj, inspiriert von Barenboim und der Said-Akademie, mischt neue mit alter Musik, romantisches und klassisches Repertoire, Lieder und Symphonisches, arabische Musik und Jazz. Im Grunde ist vom Fach her alles möglich, und die einzige Maxime, die dabei offenbar eisern eingehalten wird, ist die höchster Qualität. Die besten Musiker aus aller Welt, angelockt von Barenboim und der Idee dieses Saales, geben sich hier die Klinke in die Hand und probieren etwas Neues aus. Antonio Pappano dirigiert das Boulez-Ensemble. Das Orlando Consort singt Dufay und Desprez. Elisabeth Kulman und Luca Pisaroni setzen den Schubertliederzyklus fort, Till Brönner gibt Lecture Recitals. Auch die internationale Streichquartett-Szene blüht auf. Wann war zuletzt das fantastische Heath Quartett hierzulande live zu hören? Wann das Pavel-Haas-Quartett aus Prag?

Der Bogen der Primgeigerin könnte uns jederzeit in die Seite pieken. Die Luft dröhnt beim zartchromatischen Pizzikato der Mittelstimmen im zweiten Trio, das Licht flimmert, die Türen müssten eigentlich krachend auffliegen bei diesem Sturm, der aus dem Flügel braust. Das Pavel-Haas-Quartett ist eine junge Formation, spezialisiert aufs böhmische Repertoire. Gemeinsam mit dem Pianisten Denis Kozhukhin führten sie im Pierre-Boulez-Saal ein Traumprogramm privater Botschaften auf: Erst das Klavierquintett von Schostakowitsch von 1940, voll Camouflagen und dem Stalinismus entgegenlachender, schön frisierter Fröhlichkeit, mit einer langsamen, bitteren Fuge inmitten, die vom "Dialog des Künstlers mit der Ewigkeit" erzählt. Dann: "Incises" von Boulez, Solokraftakt für Kozhukhin. Schließlich: das Gattungsgründungswerk, jenes den Fortschritt gegen den Historismus ausspielende erste Klavierquintett der Musikgeschichte. Sturmbrausend, herzbebend: Es-Dur von Schumann.

Ausverkauft ist dieses Konzert. Eine Auslastung von 98 Prozent vermeldet Ole Bækhœj kurz vor Ende der ersten Saison. Der Wunschkonzertsaal ist da, also wird er auch voll. Er hat sich innerhalb eines Jahres ein eigenes, deutlich neues und urban durchmischtes Publikum generiert, das nicht identisch ist mit dem Publikum in den anderen Konzertsälen der Stadt. Es umfasst alte wie junge Hörer, Kenner und Liebhaber, Touristen und Szenegänger. Es ist neugierig. Und, vielleicht das Beste daran: Es wächst.

(RP)
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