Großartige Klassik-Edition mit zehn CDs Wie Bach sich selbst recycelte

Seine weltlichen Kantaten nutzte Bach als Vorlage für berühmte geistliche Werke. Jetzt gibt es sie in einer famosen Gesamtaufnahme.

 Gewusel im Haus des Thomaskantors: J.S.Bach im Kreis der Familie (nach einem späteren Gemälde von Toby Edward Rosenthal).

Gewusel im Haus des Thomaskantors: J.S.Bach im Kreis der Familie (nach einem späteren Gemälde von Toby Edward Rosenthal).

Foto: dpa/picture-alliance / akg-images

Johann Sebastian Bach war ein Akkordarbeiter, wie er im Buche steht. Überstunden ohne Ende, kein Weihnachtsgeld, geringer Urlaubsanspruch, wenig Kindergeld, keine Gewerkschaft im Rücken, keine Krankenkasse. Irgendwann wurde er so blind, wie Beethoven taub wurde, und arbeitete trotzdem weiter.

Andererseits hat er das genauso gewollt. Er strebte ins Amt des ehrfürchtigsten Diener Gottes, er bewarb sich auf den Posten des Thomaskantors nach Leipzig, dort komponierte er Passionen und Motetten, Kirchenkantaten und Orgelwerke, er führte drei Leben in einem, was er gelegentlich bejammerte und mit zornigen Eingaben an den Leipziger Magistrat darlegte. Trotzdem umfasst das Bach-Werke-Verzeichnis mehr als 1000 Kompositionen. Töne am Fließband.

Natürlich glaubt die Welt, dass sie sich in Bachs Schaffen bestens auskennt. Lauter Bekannte nach Noten. Trotzdem gibt es Kompositionen, die im Schatten der Großwerke fast unbemerkt auf Erweckung warten. Oft waren sie sogar die Lampen, aus denen später Kronleuchter wurden. Wie das?

Bach hat eine Reihe weltlicher Kantaten geschrieben; wo immer er angestellt war, zählte das zu seinem Beschäftigungsumfang. Der hochwohllöbliche Herzog hat Geburtstag? Bitte sehr, kommt sofort, Bach schreibt ihm eine Kantate, dass der Mann auf der Stelle schamrot hätte anlaufen müssen, wie wundervoll musikalisch Bach ihn als Gottgleichen feiert.

Oder Christiane Eberhardine, Kurfürstin von Sachsen und Königin von Polen, stirbt? Bach ist zur Stelle und schreibt für den 17. Oktober 1727 in Leipzig die unfassbar schöne Trauerode unter dem Titel „Lass, Fürstin, lass noch einen Strahl“. Sie wurde zwar in der Kirche aufgeführt, aber der Text ist eine irdische Wehklage, etwa so: „Dein Sachsen, dein bestürztes Meißen / Erstarrt bei deiner Königsgruft; / Das Auge tränt, die Zunge ruft: / Mein Schmerz kann unbeschreiblich heißen!“

Jetzt hat das Bach-Collegium Japan unter Masaaki Suzuki, derzeit eine Referenzadresse für den aufgeräumten, historisch informierten Umgang mit Bach, sämtliche weltliche Kantaten Bachs beim schwedischen Label Bis in einer eindrucksvollen Box mit zehn CDs vorgelegt. Und wer allein den Eingangschor dieser Trauerode hört, ist fast ergriffen, wie tiefsinnig Bach den Chor Abschied nehmen lässt. Das Orchestervorspiel windet sich durch die fernsten Harmonien, sozusagen durchs Dickicht der Musik, als könne sie nicht loslassen und als sei eine allgemeine Orientierungslosigkeit eingetreten.

Bach macht keine Unterschiede bei den Adressaten – Gott oder Kurfürstin, das ist erst einmal einerlei. Andererseits hatte Bach bei etlichen Kompositionen einen Masterplan für eine mögliche Zweitverwertung. Tatsächlich nahm Bach sich einige Jahre später jenen Eingangschor vor und verwendete ihn für das Entree der „Markus-Passion“ – aus „Lass, Fürstin, lass noch einen Strahl“ wurde „Geh, Jesu, geh zu deiner Pein“. Passte vom Metrum her perfekt.

Bach hat geklaut, und nicht wenig. Regalmeterweise. Wir müssen uns allerdings klar machen, dass es zu Bachs Zeit üblich war, dass man klaute. Es bezeugte Ehrerbietung; einer, der oft bestohlen wurde (in Melodien vornehmlich), der war etwas wert. Bach hat aber vor allem bei sich selber geklaut. Das machte er ganz öffentlich, er war ein Auto-Kleptomane vor dem Herrn. Weil das der Musikwissenschaft immer peinlich war, erfand sie den leicht verschleiernden Begriff „Parodieverfahren“.

Bach, nicht selten in Zeitnot, hat seine eigenen Werke für neue Werke umgemodelt, wobei die Noten meistens gleich oder ähnlich blieben und nur neue Texte und/oder neue Instrumente obendrauf kamen. Bei fast jeder der weltlichen Kantaten hatte er schon eine geistliche als Umwandlungsziel eines Satzes oder ganzer Satzgruppen im Kopf. Das berühmte „Weihnachtsoratorium“ ist in allen sechs Kantaten eine Wiederverwendung älterer weltlicher Kantatensätze. Fruchtbarer Acker Bach, kein Plagiat!

Interessant ist, dass Bach überhaupt kein künstlerisch-moralisches Problem darin sah, dass er den Eingangschor einer Glückwunschkantate zu einem geistlichen Gotteslob funktionierte. Drei Trompeten bezeugten Majestät und Glanz, egal ob irdischen oder göttlichen. Für die Parodierichtung vom Geistlichen ins Weltliche gibt es freilich keinen Beleg. Was einmal in der geistlichen Sphäre angekommen war, konnte nicht mehr für einen Kurfürsten nutzbar gemacht werden. Gott war für Bach die letzte Instanz, auch beim Klauen.

Und für Gott nahm Bach dann oft auch noch Verbesserungen vor, damit der Oberste nichts zu meckern hatte. Sogar die h-Moll-Messe ist nicht frei von Parodien; so stammt das doppelchörige „Osanna“ aus der Kantate „Preise dein Glücke, gesegnetes Sachsen“, die August III. zum Geburtstag gratulierte.

Ein köstlicher Sonderfall ist die „Kaffeekantate“. Hier gab es keinen Anlass, keinen Auftrag, Bach dringt – was selten bei ihm vorkam – ins Private vor. Ein Vater versucht seiner Tochter den Kaffeekonsum zu verwehren. Das klappt natürlich nicht. Wie ein Seufzer, der auch aus Bachs eigener Erfahrung mit seinen Thomanerknaben stammen konnte, hört sich die väterliche Bassarie an „Hat man nicht mit seinen Kindern hunderttausend Hudelei!“

Die japanischen Musiker musizieren das knackig, schwungvoll, trotzdem mit Andacht. Famose Solisten. Der Chor: grandios. Es ist herrlich, durch Bachs unbekannte Ländereien zu reisen und an jeder zweiten Milchkanne zu merken, dass man sie von anderswo kennt.

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