Essen Auf den Spuren großer Kultur im Revier

Essen · Eine komische Kulturlinie ist das: Fast die Hälfte ihrer Strecke verläuft nämlich unterirdisch, wo es erfahrungsgemäß wenig zu schauen gibt. Aber die 107 will gar keine Sightseeing-Tour bieten, sondern nur eine Art Pfadfinder sein zu den Sehenswürdigkeiten im Revier – genauer: vom Gelsenkirchener Musiktheater bis runter zum Baldeneysee. Na ja, eine Handvoll von Einzigkeiten auf dieser Achse kann jeder blind aufsagen – Folkwang und Zollverein, Münster und Lichtburg und Villa Hügel. Dass es dann doch 57 Hochkaräter auf der Tour sein sollen, macht eher ungläubig. Bis man wirklich aussteigt.

Wo, ist ziemlich egal, denn alles ist an den Haltestellen prima ausgeschildert und kurz beschrieben. Zudem ist in der Straßenbahn die Reihe der Bauwerke ikonographisch dargestellt; und auf den digitalen Linienbändern wird alles Sehenswerte von Station zu Station extra angekündigt. Wer sich da verirrt, muss es sich schon fest vorgenommen haben.

Steigen wir also einfach mal am Rüttenscheider Stern aus und gehen die 170 Meter zum Erzhof, in dem der Urheber dieser deutschlandweit einmaligen Kulturlinie sein Wesen treibt, die Essener Verkehrsbetriebe. Erbaut wurde das Haus 1922, dessen schwarzer Marmor im Foyer noch von den ganz großen Zeiten der Stahlproduktion kündet. Auch sind Skulpturen von Joseph Enseling dort zu bestaunen.

Hätten wir jemals einen Blick darauf geworfen oder einen Schritt hinein getan? Ein paar Stationen weiter verlassen wir die 107 am Hauptbahnhof, an dem wir früher nichts Dolles erwartet hätten. Und jetzt ist es, als stünden wir in einer neuen Stadt und sähen tatsächlich zum ersten Mal diese architektonische Begrüßung: mit der Hauptpost von 1929, dem palastähnlichen Handelshof von 1911 und schließlich dem Haus der Technik (1922) mit seinem Arkadengang, in dem bis 1935 die Börse untergebracht war. Alles Zeugnisse, die städtebaulich Zuversicht und einen unverdrossenen Glauben an die Zukunft dokumentieren. Etwas weiter durch die Fußgängerzone steht man dann auf einem der vielleicht schönsten Punkte der Reise – dem Burgplatz, mit dem mittelalterlichen Münster und seinem imposanten Domschatz, gleich dahinter erhebt sich die größte frei stehende Synagoge nördlich der Alpen, daneben die altkatholische Friedenskirche. Was für ein auch geistesgeschichtliches Ensemble.

Es gibt viel zu staunen und zu lernen, auch zu lesen in dem Begleitbüchlein zur Tour aus dem Klartext-Verlag; oder – neuerdings – einfach zu hören vom iPad oder iPhone. Dazu muss man jetzt lediglich über seinen App-Store die "Kulturlinie" für 1,59 Euro runterladen, und schon hat man einen kompetenten Audio-Guide des auf Kunstgeschichte spezialisierten Internetportals von Pausanio.

Pure Faszination nach nur wenigen Stationen der 107. Demnächst nehmen wir uns dafür ein ganzes Wochenende Zeit. Wie etliche andere schon vor uns: Denn seit die 107 Kulturlinie ist, stieg das Fahrgastaufkommen im Zentrum um sagenhafte 95 Prozent.

(RP)
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