Essen Auf alten Instrumenten Wagners "Parsifal" neu entdecken

Essen · Ein Pontifikalamt unter zwei Stunden Dauer, ohne 24 Messdiener und ohne Weihrauch ist vermutlich keines. Und ein "Parsifal", der nicht weihevoll schreitet und nicht mindestens fünfeinhalb Stunden dauert, ist auch keiner, oder?

Doch – wenn nämlich Feierlichkeit nicht über das Tempo, sondern über die Eindringlichkeit definiert wird. Pontifex ist in diesem Fall ein Dirigent, der sich nicht als Zeremonienmeister versteht, eher als Klarsichtkünstler, als Radiologe des Klangs. Thomas Hengelbrock heißt er, hat schon "Tannhäuser" in Bayreuth dirigiert und leitet das NDR-Sinfonieorchester, kommt aus der historischen Praxis, ist aber nicht ihr Justiziar, sondern ihr Prozessoptimierer. Hengelbrock dirigierte jetzt Wagners "Parsifal" in Essens Philharmonie – mit (nachgebauten) Instrumenten aus Wagners Zeit.

Der Saal ist gespannt wie jener Flitzebogen, mit dem Parsifal den Schwan erlegt, doch weil es eine konzertante Aufführung ist, sehen wir weder Schwan noch Bogen noch Speer, wir sehen nur das junge Balthasar-Neumann-Ensemble aus Freiburg mit Chor und Orchester, sehen die Solisten, die auf der Bühne mit den Augen rollen, damit es nach Expressivität aussieht. Das Licht ist gedimmt, die Atmosphäre bekommt jene Aura verpasst, die ihr indes vom ersten Takt an ausgetrieben wird, aber nicht absichtlich, sondern als Ergebnis. Hengelbrock ist fürwahr schnell, aber er hetzt nie, sondern setzt auf die Intensität des linearen Flusses – das passt ideal zur kompositorischen Gestalt. Während Wagner im "Ring" den Orchesterklang als Collage schichtet, ist er ja im "Parsifal" deutlich weiter: Die Musik wird selbst zur Handlung.

Mit den alten Instrumenten klingt es famos nach Neuentdeckung. Die Holzbläser tönen wärmer, farbenreicher, körperlicher; die Streicher spielen weitgehend ohne Vibrato, was den Klang schärft, ohne ihm die Seele zu rauben, und die Glocken baumeln exotisch und geheimnisvoll, wie ein Ruf zur Kirche auf Bali. Die Musik verliert dadurch alles Plumpe, die Nebel des Mysteriösen verziehen sich; für Hans Knappertsbusch, den Bayreuther Meister des Heilig-Wuchtigen, wäre es der Overkill, aber in Wirklichkeit ist es eine Erlösung fürs Stück. "Parsifal" als gotischer Thriller – sensationell.

Die Sänger dienen Hengelbrocks Konzept so hingebungs- wie entsagungsvoll. Wenig Georgel, viel Konversation: Seit Pierre Boulez hat man es nicht mehr so spannend gehört, dass in "Parsifal" die Figuren miteinander reden, nicht nur monologisieren. Am schönsten gelingt das Johannes Martin Kränzle als Klingsor und Kwangchul Youn als Gurnemanz – jener ein Zyniker im Amt des gefallenen Engels, dieser der Küster, der empathisch Vertraute. Matthias Goerne bewahrt die Schmerzen des Amfortas leider ein wenig sehr in der Mundhöhle auf, was das Timbre dieses großen Sängers diesmal allzu stark abdumpft. Angela Denoke ist eine intelligente Kundry mit Höhenschwächen.

Simon O'Neill singt die Titelpartie mit einem quäkigen Tenor, der zwar glänzt, doch mischen sich Nase und Hals als Produktionsorte der Töne zu stark in den Stimmklang. Knappen, Ritter, Blumenmädchen: allesamt sehr jung, sehr leicht, sehr gewinnend. Danach Tumulte der Begeisterung.

(RP)
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