Bonn Anselm Kiefers wuchtige Visionen

Bonn · Der große deutsche Maler und Bildhauer hat in seinem riesigen Atelier in Südfrankreich schon wieder Neues geschaffen. In der Bonner Bundeskunsthalle ist zu erleben, wie sich sein Werk seit den 1970er Jahren bis in die unmittelbare Gegenwart entwickelt hat.

Der Duisburger Großsammler Hans Grothe hat in den vergangenen Jahren mehr durch Verkäufe aus seiner Kollektion von sich reden gemacht als durch Neuerwerbungen. Vieles hat er abgestoßen, einem Künstler aber ist er nicht nur treu geblieben – er fordert ihm auch nach wie vor frische Produkte ab: dem in Frankreich lebenden, den Kulturen der Welt neugierig zugewandten Anselm Kiefer (67).

Vor gut einem halben Jahr erst stellte Grothe dem Burda-Museum in Baden-Baden eine Fülle hochrangiger, monumentaler Leihgaben aus seiner Kiefer-Sammlung zur Verfügung. Und jetzt schon wieder Kiefer? In der Tat begegnet man in der Bundeskunsthalle manchem Werk aus Baden-Baden erneut, doch ergibt sich ein anderer Eindruck.

Das liegt nicht nur daran, dass das Bonner Haus mit seinen hohen Räumen es ermöglicht, noch größere Formate als bei Burda aufzuhängen, sondern auch daran, dass zahlreiche wuchtige Objekte hinzugekommen sind. Mehr noch: Aus Kiefers riesigem Atelier in Südfrankreich, einer stillgelegten Seidenfabrik, sind erst in diesem Jahr drei Werke hervorgegangen, die zur Zeit der Baden-Badener Ausstellung zwar schon für die Sammlung Grothe vorgesehen, aber noch nicht fertiggestellt waren.

Eines dieser Werke bildet den Blickfang der Bonner Schau. Unter der Lichtkuppel im Eingangsbereich führt eine Wendeltreppe zehn Meter in die Höhe: "Bavel Balal Mabul", "Babel, Sprachverwirrung, Sintflut". Die Treppe weist den Weg in höhere geistige Sphären, die streifenförmigen Fotografien auf ihren Sprossen zeigen Türme als Sinnbilder kultureller Schaffenskraft, von denen einige bereits verfallen.

Turmbau zu Babel, Sprachverwirrung und Sintflut – Anselm Kiefer greift tief ins Alte Testament, um Bilder der menschlichen Existenz hervorzuholen. Aus der Kulturgeschichte speisen sich auch die beiden anderen neuesten Werke: "Sol Invictus Elagabal", ein Regal mit Büchern aus Blei, aus denen Sonnenblumen sprießen, und "Le Dormeur du Val", ein Blumen- und Pflanzenbild zu Rimbauds Gedicht "Schläfer im Tal". Kiefer ironisiert damit Mao Tse-tungs idealistischen Appell "Lasst hundert Blumen blühen".

Unter den großen deutschen Künstlern der Gegenwart ist Kiefer der Denker. Noch in den 1970er und 1980er Jahren verdächtigte man ihn der Deutschtümelei, weil er in seinen Gemälden mit Geistesgrößen spielte, welche die Nationalsozialisten vereinnahmt hatten. Schon damals aber ging es Kiefer nicht darum, deutsche Helden zu feiern, sondern er suchte den Mythen seiner Nation auf den Grund zu gehen. Inzwischen umspannt sein kulturhistorisches Interesse den gesamten Erdkreis und den Kosmos dazu.

Wie sehr er schon in den 1980er Jahren ein Kritiker der Deutschen war, zeigt sich an seiner Installation "Volkszählung (Leviathan)" von 1989: Von der Decke eines Stahlcontainers hängen Bleifahnen herab, in die angeblich 60 Millionen Erbsen gepresst sind: ein Protest gegen die Volkszählung des Jahres 1987, welche Daten der damals 60 Millionen Deutschen erfassen wollte. Kiefer demonstrierte damit gegen Untertanenmentalität und entging als einer, der die Preisgabe seiner eigenen Daten verweigerte, nur knapp einer Freiheitsstrafe.

Heute schlägt er einen Bogen von den Deutschen zu den alten Denkern Arabiens. Seine dreiteilige Gebirgsmalerei "Essence – Eksistence" von 2011, deren Mittelteil sich allein mehr als elf Meter in die Breite streckt, verfremdet die Landschaftsmalerei der deutschen Romantik und stellt mit den arabischen Philosophen Avicenna und Averroes die Frage: Ist das Individuum Herr seines Lebens oder verläuft das Leben in vorgezeichneten, unbeeinflussbaren Bahnen?

Für "Essence – Eksistence" war in der Architektur der Burda-Kunsthalle Baden-Baden kein Platz, wohl aber für einige andere Werke, die in Bonn nun erneut zu sehen sind – zum Beispiel das aus dem Jahr 2009 stammende Bild "Der fruchtbare Halbmond", eine 7,60 Meter breite Darstellung des Turms von Babel. Der "Fruchtbare Halbmond" ist eine Region, die als Wiege der westlichen Kultur gilt und sich von Mesopotamien bis zur Levante erstreckt. Kiefer versteht die Turmruine aus dem Gebiet, das heute als Krisenregion bekannt ist, nicht als Ende, sondern als Neubeginn.

Auch das Bild, das jetzt der Bonner Schau den Titel lieh, hing schon in Baden-Baden: "Am Anfang", ein Landschaftsgemälde, aus dem eine bleierne Leiter hinab zum Betrachter führt, die biblische Jakobsleiter zwischen Himmel und Erde – ein Lieblingsmotiv Anselm Kiefers, dieses tiefsinnigen, düsteren Wanderers zwischen den Welten.

Dabei ist er in Wirklichkeit ein überraschend heiterer Mensch, der gern lacht und seine Werke sogar bereitwillig erklärt, wenn er Lust dazu hat. In Bonn aber entzieht er sich persönlich wieder einmal ganz der Öffentlichkeit.

(RP)
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