Annie Ernaux Ethnologin der Zwischenmenschlichkeit

Die gefeierte französische Schriftstellerin Annie Ernaux las im Heine-Haus. Das Interesse an der 78-Jährigen war überwältigend.

 Star der französischen Literatur, Trendsetterin des autofiktionalen Schreibens: Annie Ernaux im Heine-Haus. Ihr Auftritt wurde vom Institut français mitveranstaltet.

Star der französischen Literatur, Trendsetterin des autofiktionalen Schreibens: Annie Ernaux im Heine-Haus. Ihr Auftritt wurde vom Institut français mitveranstaltet.

Foto: Georg Salzburg(salz)

Die Revolution der Literatur trägt eine hellgrüne Seidenbluse; sie wirkt heiter, aber ein bisschen müde. Annie Ernaux ist aus Cergy bei Paris gekommen, um ihr Buch „Der Platz“ vorzustellen, und das Heine-Haus ist proppenvoll. Bis hoch auf die Treppenstufen sitzt das Publikum, viele mussten sogar fortgeschickt werden. Im Original erschien der schmale Band bereits 1984, und er hat einige Schriftsteller inspiriert, ihr eigenes Umfeld soziologisch wie Wissenschaftler zu betrachten und in der ersten Person über ihr Leben zu schreiben. Inzwischen ist Autofiktion der letzte Schrei auf dem Buchmarkt, „dernier cri“ sozusagen, das beweist unter anderem der weltweite Erfolg von Karl Ove Knausgard. Und damit keine Missverständnisse aufkommen, sagt Ursula Hennigfeld, die Moderatorin des Abends, gleich mal, was Sache ist: „Annie Ernaux ist nicht Teil des Trends, sie ist der Trend.“

Ernaux schreibt experimentell, aber ohne Leser zu verschrecken. Sie ist mit allen Wassern der Theorie gewaschen, zwischen den Zeilen grüßen Pierre Bourdieu und Roland Barthes, aber ihre Sprache ist nicht von Fach-Chinesisch durchwirkt. Sie nimmt die Leser an die Hand, sie führt sie durch ihre Biografie. Und sie vermittelt einem, wie man das eigene Selbst und die eigene Vergangenheit respektvoll und ohne falsche Idealisierung einholen und begreifbar machen kann.

In „Der Platz“ erzählt Ernaux von ihrem Vater, der einst Vorarbeiter war und schließlich ein Geschäft mit angeschlossenem Café eröffnete. Dieser leichte gesellschaftliche Aufstieg ging einher mit der immerwährenden Angst, das Erreichte wieder zu verlieren. Ernaux studierte, sie entfernte sich von den Eltern, fühlte sich deswegen schuldig, und sie schildert die Scham, die bei Besuchen daheim stets im Raum stand. „Klassenflucht“ und daraus resultierendes „unglückliches Bewusstsein“ hat Bourdieu das genannt.

„Der Platz“ sei ihr wichtigstes Buch, sagt Ernaux. Neun Jahre habe sie es in sich getragen, der Tod ihres Vaters sei der Auslöser gewesen, es sollte die Distanz zwischen ihm und ihr überbrücken. Ernaux arbeitete lange als Lehrerin, sie spricht klar, mit milder Strenge, die Hände unterstreichen das Gesagte. Dialogszenen liest sie wie im Hörspiel, sie variiert Tempo und Lautstärke. Rudolf Müller trägt die Übersetzung vor. Ein starkes Gefühl sei stets der Ausgangspunkt für ein Buch, erzählt Ernaux. Das sei mitunter über Jahre hinweg spürbar, dann trete es deutlich zu Tage, und sie beginne mit der Niederschrift. So ist denn ihre oft als sachlich missverstandene Literatur zwar unsentimental, aber nicht ohne Emotion. In Frankreich ist Ernaux längst ein Star, der junge Wilde Èdouard Louis nennt sie sein Vorbild, der Soziologe Didier Eribon zitiert sie in „Rückkehr nach Reims“. In Deutschland wurden einige ihrer Bücher zwar übersetzt, waren aber längst vergriffen, als Suhrkamp Ernaux dem Publikum 2017 mit dem Band „Die Jahre“ neu vorstellte. Wer ihre Bücher aneinander legt, hat eine Biografie vor sich, ein Frauenleben im 20. Jahrhundert, etwas Wahrhaftiges. Eine Art akademische „Comédie humaine“.

Ernaux ist eine Ethnologin ihrer selbst. Sie registriert kleinste Verschiebungen im Spannungsfeld der Zwischenmenschlichkeit. Sitten, Gebräuche, Formulierungen, Gesten, Tonalitäten, Gestimmtheiten. Ihre Bücher dokumentieren auch das Integrationspotenzial des republikanischen Schulsystems. Die französische Literatur kannte Helden wie Ernaux’ Vater ja kaum, einen Mann, der eben nicht an Kunst, Literatur und den schönen Dingen interessiert ist. So hat Ernaux die Literaturgeschichte nicht nur um ein Verfahren bereichert, sondern auch um Stoffe und Motivik.

Bücher sind Spiegel, hat André Gide gesagt. In ihnen sähen wir nicht das, was wir effektiv schon seien, sondern das, was wir erst noch werden wollten. Sehr viele lassen sich an diesem Abend ein Buch von Ernaux signieren. Sie stellen sich an, um einer Frau nahezukommen, die sie nach Lektüre ihrer Bücher so gut zu kennen meinen wie eine nahe Verwandte.

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