„Liebe Kitty“ im Jungen Schauspiel Große Träume im engen Hinterhaus

Düsseldorf · Anne Frank schrieb ein bezauberndes Tagebuch, bevor die Nazis sie in ihrem Amsterdamer Versteck entdeckten. Der Romanentwurf „Liebe Kitty“, umgearbeitet als Theaterstück, hatte nun im Jungen Schauspiel Premiere.

 Ali Aykar, Felicia Chin-Malenski und Eduard Lind (v.l.) in „Liebe Kitty“ im Düsseldorfer Schauspielhaus.

Ali Aykar, Felicia Chin-Malenski und Eduard Lind (v.l.) in „Liebe Kitty“ im Düsseldorfer Schauspielhaus.

Foto: David Baltzer

Auf der dunklen Bühne knarzt der Boden. Er ächzt unter dem Gewicht von fünf Personen, die sich einen Platz ertasten. Plötzlich leuchtet vorne ein altes Radio auf, und eine Politikerstimme wendet sich an die Hörer. Der niederländische Minister Bolkestein bittet sie, all ihre Briefe und Tagebuchaufzeichnungen für die Zeit nach dem Krieg aufzubewahren. Schon läuft auf der hinteren Wand ein Fließtext, laut gelesen von der Fünfergruppe. Es sind die Aufzeichnungen des jüdischen Mädchens Anne Frank, ihr Vermächtnis. Und die fünf jungen Darstellerinnen und Darsteller teilen sich ihr kurzes Leben.

Der knarzende Boden steht für das Hinterhaus in der Amsterdamer Prinsengracht, wo sich die Familie Frank zwei Jahre lang vor dem Naziterror sicher glaubte. Ächzenden Grund und ein paar Stühle, mehr braucht es nicht im Jungen Schauspiel an der Münsterstraße. Endlich kann man dort eine Inszenierung erleben, die als Uraufführung für den Herbst 2019 geplant war. „Liebe Kitty“ ist ein Romanentwurf, umgearbeitet als Theaterstück für Kinder ab 10 Jahren. Aber gleich fünfmal Anne Frank im engen Hinterhaus? In Zimmern, die bei Tag zum Wohnen, Essen und Arbeiten dienten, nachts als Schlafstätte? Eigentlich unvorstellbar, doch nur mit der Teilung der Hauptrolle glauben Jan Gehler (Regie) und David Benjamin Brückel (Dramaturgie), den vielen Facetten der jungen Literatin gerecht zu werden.

Anne Frank hatte einen großen Wunsch: Sie wollte als Schriftstellerin leben. „Nach dem Krieg möchte ich unbedingt ein Buch mit dem Titel ‚Das Hinterhaus‘ herausbringen“, schrieb sie am 11. Mai 1944 in ihr Tagebuch. Wenige Monate später wurde das Versteck der Familie entdeckt und alle deportiert. Im Februar 1945 starb die bald 16-Jährige im Konzentrationslager Bergen-Belsen an Fleckfieber, Erschöpfung und Unterernährung.

Ihr Tagebuch mit Briefen an eine imaginäre Adressatin namens „Kitty“ aber blieb erhalten und wurde zu einem der bekanntesten und meistgelesenen Bücher der Welt. Herausgegeben hatte es ihr Vater Otto Frank, der als Einziger den Holocaust überlebte. Doch Frank ließ dabei ganze Passagen aus: Streit der Eltern im Versteck und andere sehr intime Momente der Tochter. Vor zwei Jahren aber, als Anne Frank 90 Jahre alt geworden wäre, erschien eine neue Fassung, die ihr Talent als Schriftstellerin auf den Punkt bringt.

Dort liest man Skizzen für einen Roman, kleine Vignetten, und diese bilden die Grundlage des 90-minütigen Spiels. So wie die Ode an den Füllfederhalter. „Als ich neun Jahre alt war, kam mein Füllfederhalter in einem Päckchen als Muster ohne Wert aus dem fernen Aachen, dem Wohnort meiner Großmutter, der guten Schenkerin. Der glorreiche Füllhalter steckte in einem roten Lederetui und wurde gleich an meinem ersten Tag all meinen Freundinnen gezeigt. Ich, Anne Frank, die stolze Besitzerin eines Füllhalters.“

Auf die Bühne gebracht werden aber auch schwierigere Szenen eines Lebens im Untergrund mit dem Zwang, sich untereinander zu verstehen, mit einer strikt durchgehaltenen Etikette. Eintöniges Essen, fade Bohnengerichte, die so schmecken wie sie riechen, und dann: „Hmh, auch heute wieder lecker gekocht.“ Als ob die Enge im Hinterhaus für das Zusammenleben der Familien von Otto Frank und seinem Geschäftspartner Hermann van Pels nicht schon Qual genug wäre, nimmt man mit dem Zahnarzt Fritz Pfeffer noch einen achten Bewohner auf. Mit dem muss sich Anne dann sogar ihr Zimmer teilen. „Die Hölle, das sind die anderen“, nein, so weit wie bei Sartre will man nicht gehen, aber wenn die Außenwelt versperrt ist, tut es in der Mundhöhle weh. Backenzahn streitet mit Schneidezahn, das sorgt bei den jüngeren Zuschauern für befreiendes Lachen, ebenso wie Schattenspiele oder die Reise nach Jerusalem.

Für die neue Fassung des Tagebuchs hatte sich die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Laureen Nussbaum jahrzehntelang eingesetzt. 1927 als Hannelore Klein in Frankfurt am Main geboren, war auch sie mit ihrer Familie nach Amsterdam geflüchtet und mit Anne gut bekannt. Es gab ja damals im niederländischen Exil ein kurzes freies Leben vor dem Zwang zum Verstecken. Als die Erwachsenen junge Mädchen fröhlich „Backfische“ nannten. Und manche Jungs locker über die Straße riefen: „He Schnitte, heute schon belegt?“ Während die Streber mit Goethe auftrumpften: „Mein schönes Fräulein, darf ich’s wagen, Arm und Geleit ihr anzutragen?“

Nochmal zum Füllfederhalter: Als Anne 13 wurde, begleitete der Füller sie ins Hinterhaus der Prinsengracht. Nach dem Bohnenputzen landete er versehentlich mit dem Abfall der Bohnenreste im Ofen.

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