Prägnante Begriffe Da fehlen uns die Worte

Komplexe Vorgänge, Gefühle oder Zusammenhänge mit einem Wort auf den Punkt zu bringen, ist eine feine Sache. Im Deutschen finden sich dafür tolle Beispiele. Von anderen Sprachen können wir indes noch lernen.

 Nein, Boris Johnson kommt nicht gerade von Friseur und findet das Ergebnis „age-otori", also schlimmer als vorher. Der britische Premierminister sieht immer so aus.

Nein, Boris Johnson kommt nicht gerade von Friseur und findet das Ergebnis „age-otori", also schlimmer als vorher. Der britische Premierminister sieht immer so aus.

Foto: dpa/Tayfun Salci

Die deutsche Sprache wird als besonders ausdrucksstark gerühmt. Immerhin hielt sie das Volk ihrer Sprecher zusammen, bis es endlich einen gemeinsamen Staat besaß, was ziemlich lang dauern sollte, und verlieh ihm in der Zwischenzeit wenigstens den Ehrentitel „der Dichter und Denker“. Des Deutschen „mächtig“ zu sein, klingt irgendwie titanenhaft, so als habe man in einem langen und zähen Kampf um Aussprache und Grammatik schließlich die Oberhand errungen – und dürfe nun zur Belohnung einen „Wortschatz“ sein Eigen nennen.

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Das ist keineswegs übertrieben, in der Standardsprache sind es tatsächlich rund 75.000 von mindestens 300.000 Wörtern, die der Durchschnittsdeutsche über seine Lippen bringt. Deutsch ist darüber hinaus reich an starken Verben, die ebenso wie Substantive mit aller Kraft gebeugt werden wollen, es fehlt nicht an dramatischen Zisch- und Knacklauten, gurgelnden „R“s, Nasalen, die aus den Tiefen der Nebenhöhlen dringen, Umlauten, die unversehens um die Ecke biegen. Da kommt einiges zusammen, vor allem, wenn man die vielen Dialekte mit ihren eigenen Idiomen hinzuzählt.

Darin liegt vermutlich ein Grund, warum es Deutsch nicht zur Weltsprache gebracht hat. Andererseits sind nicht gerade wenige deutsche Ausdrücke international bekannt. Im Englischen versteht jeder, was etwa mit „Kindergarten“, „Autobahn“ oder „Aha-Erlebnis“ gemeint ist, auch „Blitzkrieg“ hat einige Popularität erlangt, unglücklicherweise. Die Dänen kennen „Polterabend“, die Franzosen „Berufsverbot“, die Finnen „Bratwursti“, die Japaner „kirushuwassa“ (Kirschwasser).

Komplexe Vorgänge, Gefühle oder Zusammenhänge in ein einziges Wort fassen zu können, ist eine tolle Sache. Es enthebt einen der Notwendigkeit, auf die Details eingehen zu müssen, denn darin verliert man sich bekanntlich nicht nur schnell, es verlangsamt die Kommunikation auch ungemein. „Schadenfreude“ oder das unübertroffene „verschlimmbessern“ etwa bringen es genial auf den Punkt. Dafür finden sich weltweit keine Entsprechungen, obwohl es natürlich überall Leute gibt, die sich am Unglück anderer ergötzen oder Dinge ruinieren, die sie eigentlich richten sollten. Andere Nationen wiederum kennen Begriffe für Alltägliches, die derart treffend erscheinen, dass man ebenso anerkennend wie bedauernd ausrufen möchte: Da fehlen uns die Worte!

Zwar kann es unser „gemütlich“ noch in gewisser Weise mit dem dänischen „hyggelig“ aufnehmen, doch bedürfte etwa der englische Begriff „Ringxiety“ bereits ausholender Umschreibungen. Er bezeichnet ein Gefühl, das jeder Handy- oder Smartphone-Besitzer kennt: Man glaubt, das Ding klingelt (englisch: to ring) oder vibriert in der Tasche, dabei tut sich in Wahrheit gar nichts. Unsere Alarmbereitschaft in einem Umfeld ständiger Erreichbarkeit hat uns – klingeling – einen Streich gespielt.

Auch das hat jeder schon einmal durchgemacht: Ewig hat der Friseur an einem herumgeschnitten, aber das Ergebnis beim anschließenden Blick in den Spiegel ist haarsträubend: Man sieht schlimmer aus als vorher. „Age-otori“ nennen die Japaner den Schock.

Oder „Sobremesa“ – das ist Spanisch und klingt wie Sodbrennen, bedeutet aber, nach dem Essen noch weiter in fröhlicher Runde beim Plausch zusammenzusitzen. „Geselliges Beisammensein“ könnte vermutlich eine Übersetzung lauten, aber das hört sich irgendwie nach Altenheim an und steht nicht unbedingt in Verbindung mit einer Mahlzeit.

Es passiert häufiger, als einem lieb ist: Auf der Straße werden wir freudig von jemandem angesprochen, dessen Gesicht wir genau kennen, aber dessen Name uns partout nicht einfallen will. Noch schlimmer wird es, wenn diese Person einen erwartungsvollen Blick auf uns richtet, der besagt, man möge sie jetzt doch langsam mal dem Menschen vorstellen, der einen begleitet. Für diese Peinlichkeit haben die Schotten ein Extra-Verb: „to tartle“. Damit kann man sich auch gleich unkompliziert entschuldigen: „Sorry for my tartle.“

Und wie oft fällt uns viel zu spät die passende Antwort oder die zündende Pointe ein! Häufig erst, wenn die Situation vorbei ist, in der Schlagfertigkeit gefragt gewesen wäre – beim Hinausgehen auf der Treppe. „L‘esprit de l‘escalier“, nennt der Franzose entsprechend die Eingebung im Nachhinein, ein Begriff, den der Dichter Denis Diderot im 18. Jahrhundert prägte und der als „Treppenwitz“ durchaus Eingang ins Deutsche fand. Heute steht das Wort allerdings bloß für skurrile Begebenheiten oder Ironie des Schicksals, für den ursprünglichen Sachverhalt fehlt eine griffige Formel.

Nicht immer liegt es am schwachen Gedächtnis, wenn sich Dinge im Hausstand ansammeln, die einem eigentlich nicht gehören, die aber nie an ihre wahren Eigentümer zurückgingen, sondern deren Besitz zu einer lieben Gewohnheit wurde. „Tingo“ heißt diese nicht ganz so feine englische Art, ausgeliehene Sachen einfach zu behalten, auf Rapanui. Das ist ein ostpolynesischer Dialekt, der auf den Osterinseln gesprochen wird.

Aus der Sprache der Inuit, die auf Grönland und im Nordosten Kanadas leben, stammt das Wort „Iktsuarpok“. Es beschreibt die Unruhe oder freudige Erwartung, die einen immer wieder an die Tür treibt, um nachzusehen, ob sich der Besuch endlich nähert. Heute schaut man leichter öfter mal aus dem Fenster, die es früher in den Iglus selten gab, aber das Gefühl ist dasselbe geblieben.

Schließlich darf ein Wort nicht unerwähnt bleiben, das es als das „prägnanteste“ sogar ins Guinness Buch der Rekorde geschafft hat: „Mamihlapinatapai“. Das ist Yagan, die Sprache der Ureinwohner von Feuerland. Es steht für die nicht unbekannte heikle Lage, in der sich zwei Menschen, die sich insgeheim sehr mögen, verstohlene Blicke zuwerfen, wobei alle beide hoffen, der jeweils andere möge den Mut aufbringen, die Sache anzusprechen. Das aber passiert einfach nicht. Da fehlen auch uns erneut die Worte: sieben Silben, die beinahe einen Roman erzählen!

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