Amadeus politicus

Nicht nur Märchen und Heiterkeit: Mozarts Opern besitzen einen politischen Kern. Damit atmen sie den Geist der Aufklärung. Von revolutionären Gedanken lebt nicht nur "Die Hochzeit des Figaro". Auch die "Zauberflöte" kommentiert die Machtpolitik jener Zeit.

Die Leute möchten sich amüsieren und nicht von menschlicher Schlechtigkeit und von Leichen behelligt werden, die auf der Bühne herumliegen. Sie möchten Melodien, die sie schon hundert Mal gehört haben, innerlich mitpfeifen und keine intrigante Welt vorgeführt bekommen. Deswegen gehen sie hinein in diese Oper aller Opern, die das tönende Amüsiertheater schlechthin zu bieten scheint. Auf der Beliebtheitsskala der Oper steht sie, steht Mozarts "Zauberflöte" seit Menschengedenken ungefährdet oben; dort thront sie wie die Königin der Nacht, die allerdings nicht nur mit der Hölle droht, sondern dem kleinen Mann Frohsinn und Erbauung spendet.

Das Publikum erlebt in der "Zauberflöte" edle Liebe und feurige Rachsucht, schnurrige Verwandlungen und böse Tiere, die sich durch magische Instrumente zähmen lassen; vor allem labt es sich an den schönsten Arien - etwa derjenigen vom bezaubernd schönen Bildnis, die man nicht wirklich herzumgreifend erlebt hat, wenn man sie nicht aus dem Munde Fritz Wunderlichs in der herrlichen Böhm-Aufnahme gehört hat. Der große, vielleicht größte Tenor deutscher Zunge sang sie mit einer lyrischen Inbrunst, einer Entflammtheit aus dem Moment, aber auch mit einer Strahlkraft und einem Schmelz, dass hinter diesen vokalen Tugenden der ideale Liebende aufschien.

Kann sein, dass das geneigte Auditorium der Wiener Uraufführung vom 30. September 1791 all dies erfreut goutierte, dass es höchsten Spaß hatte und Mozart als dem Komponisten zuklatschte, dessen Spendierhosen von seiner Geberlaune lustig ausgebeult waren. Kann aber auch sein, dass die Besucher dieser und der vielen folgenden Aufführungen intuitiv erkannten, dass es in dieser "großen Oper in zwei Aufzügen" doch um größere Themen jenseits des Märchenschabernacks geht. Ob es in Mozarts letztem Werk für das Musiktheater möglicherweise eine höhere Ebene gibt, die nicht nur ewige, sondern sehr aktuelle Geschichten aufgreift, ist seitdem oft diskutiert worden.

Ist Sarastro wirklich nur ein gutmütiger Vorstandsvorsitzender?

Es beginnt schon mit der Frage, wer hier das Gute und wer das Böse verkörpert. Ist die Königin der Nacht wirklich eine Furie - oder doch der Inbegriff der zerrissenen Mutter, der die Tochter genommen wurde? Ist Sarastro wirklich ein gutmütiger Vorstandsvorsitzender, der in den heiligen Hallen der Langeweile residiert - oder doch ein Autokrat, der sich nimmt, wonach ihm gelüstet? Und ist Papageno wirklich ein gefiederter Kasper - oder doch einer jener Freidenker, denen im damaligen Österreich ein Maulkorb verpasst werden musste (wie es in der Oper die drei Damen ja auch tun, wenn sie ihm das Schloss vor die Lippen hängen)?

Solche Fragen hält Mozart nicht für unzulässig, doch er beantwortet sie nicht. Jedenfalls empfiehlt es sich, das Werk von hinten, von seinem scheinbar positiv geordneten Schluss zu analysieren und dort eine Textstelle zu entdecken, die wie ein Code wirkt. "Es siegte die Stärke und krönet zum Lohn die Schönheit und Weisheit mit ewiger Kron'." Der Mozart-Kenner Attila Csampai empfindet diese Stelle als verräterisch: "Nun wissen wir es. Die Stärke siegte. Nicht die Liebe. Nicht die Güte. Nicht die ,Freundespflicht'. Nicht die Macht der Zauberflöte."

Dieser Befund scheint von der Musik auf seltsame Weise verschleiert - und raffiniert verharmlost. Sarastro wirkt ja gerade (etwa in seiner großen Arie) als milder Fürst, der mit wohligem Bass seinen Zuhörern priesterhaft den Weg weist: "In diesen heil'gen Hallen / Kennt man die Rache nicht, / Und ist ein Mensch gefallen, / Führt Liebe ihn zur Pflicht." Die Stimme führt einen allerdings - ohne Netz und doppelten Boden - auch in einen Abgrund, über dem einem schwindlig werden kann; tiefer wird in Opern nur selten gesungen. Und dass dieser Herrscher über einen gefährlich langen Atem verfügt, zeigt die Arie nicht minder. Die Dimension des Pflichtbegriffs, die auf den Aufklärer Immanuel Kant verweist, wird hier mit fast tyrannischer Freundlichkeit zementiert; der eigene Willen weicht einer maskierten Humanität ("führt Liebe ihn zur Pflicht"), die bei näherem Hinsehen etwas Diktatorisches besitzt. Der Musikwissenschaftler Rainer Riehn spricht denn auch von Mozarts unerhörter Differenziertheit des Komponierens, mit der er "Musik als Ideologie durchschaut".

Mozart - Künstler mitten in seiner Zeit

Was Sarastro in der Tiefe orgelt, das schießt die Königin der Nacht an Spitzentönen in der Höhe ab: Das dreigestrichene f weist sie als Extremturnerin aus, deren Koloraturen ebenfalls nach langem Atem verlangen. Ihr darf man die Rachsucht aufs Wort und ultimativ glauben, wodurch Mozart die Tatsache verstärkt, dass ihre Tochter nicht weniger als einem Menschenraub zum Opfer gefallen ist. Und in der Tat müssen Pamina und Tamino lebensgefährliche Prüfungen bestehen, bis sie aus der Unfreiheit des Tempels erlöst sind. Man fühlt sich an die Aufnahmezeremonien bei den Freimaurern zu Mozarts Zeit erinnert - und zugleich an das Serail des Bassa Selim, der in Mozarts "Entführung aus dem Serail" ebenfalls die Besitznahme einer jungen Frau praktiziert.

Mozart war kein weltfremder Künstler, er stand mitten in seiner Zeit und nahm wahr, was um ihn herum passierte. Und ihn interessierten Themen und Stoffe mit Dimension, mit Subtext und mit Metaebene. Davon wollte er die "Zauberflöte" nicht ausnehmen. Womöglich ist sie eine politische Warnung, und zwar vor erstarrten Systemen, die ihren feudalen Charakter nicht zu erkennen geben und in ewiger Belagerung zueinander stehen. Mozart und Österreich erlebten in jenen Tagen ein Machtvakuum; Kaiser Joseph II., der reformfreudige und Mozart zugewandte Repräsentant des "aufgeklärten Absolutismus", war ein Jahr zuvor gestorben, und in dieser Situation waren es die staatliche Zensur und die katholische Kirche, die verloren geglaubtes Terrain zurückerobern wollten. Der Musikologe Helmut Perl sieht in dem Märchencharakter der Oper die Notwendigkeit des Komponisten zu einer "Gratwanderung zwischen notwendiger Camouflage einerseits und Verständlichkeit der Botschaft andererseits". Das heißt: Mozart verspiegelte seine politischen Botschaften.

Perl erklärt das folgendermaßen: Die drei Damen seien schwarz gekleidet wie Kapuzinerinnen der Wiener Klöster, wodurch das Publikum sie direkt als Vertreter der Gegenreformation und des Klerus identifiziert habe. Dazu passe die Szene mit der Flucht des Helden Tamino vor der Schlange, eine Allegorie der Erbsünde, die eben nur die Kirche, vertreten durch die drei Damen, überwinden könne. Mozart bleibt sich gleichwohl treu: Jedweder Konkretheit enthält er sich, er wird nicht polemisch, sondern lässt Kunst, Liebe, Leben und Politik in der Schwebe. Karikaturen sind seine Protagonisten dadurch noch lange nicht, im Gegenteil. Sie sind Teil einer Versuchsanordnung, in der Mozart seine Helden nicht denunziert, sondern liebt.

In den anderen Opern Mozarts, in denen politische oder soziale Aspekte mehr oder weniger offenkundig eine Rolle spielen, liegen die Dinge klarer auf der Hand als in der "Zauberflöte", die ihre Thematik selbst mit einem Schloss zu bewachen und zu verschließen scheint. Die "Entführung aus dem Serail" ist dagegen ein eindeutiger Fall und gerade in heutigen Tagen eine Debatte wert, da der Muslim als solcher für manche, denen die Brille und der Verstand abhandengekommen sind, bereits als Erzfeind gilt. Man muss nur hören, was der Haremswächter Osmin in Wahrheit singt, wie er wirklich fühlt; dagegen benehmen sich die beiden Europäer, die ihre Bräute wiederhaben wollen, fast schon wie herablassende Imperialisten.

Auch "La clemenza di Tito", ebenfalls 1791 uraufgeführt, atmet politischen Geist, umso mehr, als die Oper ein Auftragswerk für die Kaiserkrönung Leopolds II. in Prag war - dieser war kein Geringerer als der Bruder jenes Kaisers Joseph II., dem Mozart auf vielfältige Weise verbunden war. Mozart hatte wie immer seine Schwierigkeiten damit, sich politische Statements und Verhaltensweisen in die Komposition zwingen zu lassen. Und so kam es zu der geradezu atemberaubenden Situation, dass Mozart die Güte eines Kaisers zu vertonen hatte, der an die Staatsräson dachte und zugleich liebte, sich als Mensch zeigte.

Ein Tugendbold im System

der politischen Intrigen

Solche Zwickmühlen wusste damals nur Mozart aufzulösen, und wie schon in der "Zauberflöte" komponierte er einen einzigartigen Schwebezustand, in dem die Figuren gleichwohl zu tiefen Gefühlen fähig waren. Der Mozart-Experte Dietmar Holland beschreibt die Folgen, die bei der Uraufführung das Publikum beschäftigten: "Was konnte das höfische Publikum an Mozarts Titus-Gestalt stören? Da Mozart alle politische Kasuistik gestrichen hat, rückt er den Kaiser in die Nähe eines gefährdeten Tugendbolds, jenseits aller Staatsräson, und er mutet ihm eine schier weltfremde Milde zu, die geradezu selbstmörderisch anmutet inmitten der politischen Intrigen (wie sie im Publikum jeder aus eigener Erfahrung kannte)."

So tritt denn zu der genialen Unschärfe, die Mozart über die Geschichte und ihre Hauptperson legt, auch ein Hauch Ironie, der typisch ist für den späten Mozart. Diese Ironie hatte auch die drei da-Ponte-Opern infiziert. Sie alle tragen, jede für sich, das Moment des Unfassbaren mit sich, um das Publikum zu erheitern und zu irritieren. Will man glauben, dass zwei Frauen nicht erkennen, dass ihre Verlobten in Verkleidung eine Überkreuz-Balz beginnen? In "Così fan tutte" reizt Mozart die Möglichkeiten des Amourösen im Sinne einer Versuchsanordnung fast exzentrisch aus, wogegen er im "Don Giovanni" das Metaphysische (mit der finalen Höllenfahrt) in die Liebe integriert.

In der "Hochzeit des Figaro" ist nicht minder die Hölle los, aber es ist auch die fidele Hölle des Klassenkampfs. Vorderhand liegen die Verhältnisse da wie ein offenes Buch: Der Graf Almaviva liebt das Dienstmädchen Susanna und will das "ius primae noctis", also das alte Recht auf die erste Nacht, erzwingen; diese feudale Vergünstigung ist zwar längst abgeschafft, scheint für Almaviva aber wohl noch zu gelten.

Zu Mozarts Zeit war der politische Subtext ungeheuerlich, er wusste das. Er wählte mit seinem Textdichter Lorenzo da Ponte ausgerechnet das politisch anrüchtigste Theaterstück der damaligen Zeit als Vorlage, nämlich Beaumarchais' Gesellschaftskomödie "La folle journée ou Le mariage de Figaro" aus dem Jahr 1781. Was Mozart daraus macht, ist aber unvergleichlich viel mehr als ein vertontes Schauspiel. Er injiziert den Figuren nämlich jenes psychologische Gift, das aus ihnen vielschichtige Menschen macht - und so kommt es, dass der Graf plötzlich bei Susanna nicht nur ein Recht einfordert, sondern auch Wärme in seine Töne legt: Er hofft auf Gegenliebe. Mozart schafft so das autonome Kunstwerk, das der Musik die Rolle des Analytikers zukommen lässt. Sie schließt die Seelen auf, sie erzählt von ihren geheimen Gefühlen. Davon leben nicht nur die Arien und Duette, sondern auch die turbulenten Ensembles am Ende des zweiten und vierten Aktes: Sie entzünden eine hocherotische Welt, in der das Politische durch das Humane beglaubigt wird.

Es ist übrigens nicht nur der Graf, der hier in den Treibsand gerät, auch Figaro selbst wird erfasst von widerstreitenden Gefühlen. Deshalb wird klar, dass der "Figaro" dank des Seelendoktors Mozart politisch sogar Ausblick hält: Auch die bürgerliche Gesellschaft wird erfasst werden von jenen instinkthaften Impulsen aus Libido, Enttäuschung, Hoffnung und Befreiung, die den glühenden Bodensatz jedes sozialen Systems darstellen.

(w.g.)
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