Am Deutschen Reich scheiden sich die Geister

Der britische Historiker Whaley hat ein Monumentalwerk vorgelegt.

Als der später "der Große" genannte junge Friedrich von Preußen am 16. Dezember 1740 im österreichischen Schlesien einmarschierte, kam er den Sachsen dramatisch zuvor: Die hatten selbst darauf gehofft, einen Teil Schlesiens zu gewinnen, einen Korridor entlang der schlesischen Nordgrenze, um so eine Landverbindung mit dem in Personalunion verbundenen Polen zu erreichen - allerdings auf dem Verhandlungswege. Es kam bekanntlich anders.

Diese kleine Geschichte ist eine von vielen, die Joachim Whaley in seinem monumentalen, zweibändigen Werk über "Das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1493 - 1806" erzählt. Der Geschichtsprofessor an der englischen Universität Cambridge hat auf 1700 Seiten ein buntes Potpourri vorgelegt über mehr als drei Jahrhunderte deutscher Geschichte.

Whaley beginnt seine Reichsgeschichte mit dem Jahr 1493, als der Habsburger Maximilian I. "Alleinherrscher", aber noch nicht Kaiser wurde. Wieso er dieses Datum wählt, macht er allerdings nicht deutlich. Sie endet naturgemäß 1806, als Franz II. auf ein Ultimatum Napoleons hin als Deutscher Kaiser abdankte. Für die Zwischenzeit befasst sich Whaley in sechs Kapiteln vor allem mit der inneren Entwicklung des Alten Reiches, in zweien davon auch dezidiert mit der Entwicklung seiner Territorien.

Diese Fokussierung auf die Territorien wird leider auf der Titelseite ausgelassen, was falsche Erwartungen weckt. So ist die Binnensicht bereits programmiert, auch wenn der Blick auf das internationale Umfeld nicht völlig außen vor bleibt. Dies kann man so machen: Das Alte Reich war problemlösungs- und reformunfähig, moderne Staatlichkeit konnte sich nur in den einzelnen Territorien entwickeln.

Vielfach positiv aufgenommen wird das Buch von den Revisionisten, also den deutschen "Historikern der Sonderweg-Schule in den 1960er und 1970er Jahren (so Whaley)". Letzteres wird deutlich, wenn bei Whaley positiv die "Revision der längst überholten Nationalerzählung" hervorgehoben und zufrieden vermerkt wird, dass die "preußische ... Meistererzählung" vom Niedergang des Reiches und vom Westfälischen Frieden als nationaler Katastrophe "endgültig zu Grabe getragen worden" sei (FAZ vom 11.12. 2014). Dennoch ist der britische Historiker nicht den Revisionisten zuzurechnen.

Als Antwort auf die Revisionisten kam es nach der Wiedervereinigung zu einer Renaissance des preußischen Geschichtsschreibers Leopold Ranke ("Die großen Mächte"), die zwar an Whaley nicht völlig vorbeigeht, von ihm aber auch nicht mitvollzogen wird. Für diese "Nach-Revisionisten" jedenfalls gilt wieder Henry Kissingers klassisches Urteil: "Deutschland gelang es nicht, ein Nationalstaat zu werden. ... Als das Land sich schließlich vereinigte, fiel ihm die Definition seines nationalen Interesses so schwer, dass es im Verlauf dieses Prozesses die schlimmsten Tragödien (des vergangenen Jahrhunderts) bewirkte."

Whaleys voluminöses Werk ist also eher etwas für Geschichtsliebhaber, die sich (auch) mit der Vorgeschichte ihres Bundeslandes befassen wollen. So zeigt sich, dass das Buch 25 Jahre zu spät erschienen ist und besser in die außenpolitisch vielfach gehandicapte alte Bundesrepublik mit ihrer Fokussierung auf die Innenpolitik als in das wiedervereinigte Deutschland mit seiner gewachsenen internationalen Verantwortung passt.

(RP)
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