Reichspogromnacht Als in Deutschland die Synagogen brannten

Düsseldorf · Vor 75 Jahren zettelten Nazi-Schergen landesweit Gewaltaktionen gegen Juden an. In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurden über 1000 jüdische Bürger ermordet und 30 000 deportiert sowie 1600 Synagogen geschändet oder zerstört. Getarnt wurde das Pogrom als eine spontane Aktion des Volkes.

Was denkt einer, der Feuer an ein Haus legt? An ein Gotteshaus, ein Bethaus. Was empfindet er, wenn dieses Haus in der eigenen Stadt steht, womöglich in der Nachbarstraße? Und was wird dann in einem solchen Menschen tätig: Verblendung, Wahnsinn, Verführung? Auf diese Fragen wird es keine Antwort geben. Aber es lohnt sich immer noch, sie zu stellen — auf den Tag 75 Jahre, nachdem in Deutschland Synagogen von SA- und SS-Truppen geschändet, zerstört, niedergebrannt wurden; nachdem Geschäfte der jüdischen Bürger geplündert und viele Juden geschlagen, gedemütigt, ermordet wurden.

Später wird es heißen, dass an den organisierten Gewaltakten der Nationalsozialisten auch zehn Prozent der Bevölkerung mitgewirkt haben. Die meisten hätten nur zugeschaut, laut zustimmend und johlend die einen, bitter schweigend die anderen. Aber was heißt das schon? Zu einem Ende der Exzesse, gar zur Rettung der Gepeinigten und Misshandelten hat der stille Widerstand jedenfalls nicht gereicht.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs, als Deutschland auch moralisch in Schutt und Asche liegt, wird die Frage gestellt werden, was die Deutschen von der Massenvernichtung der Juden wissen konnten. Die Frage beantwortet dieser 9. November 1938 — ein Tag, an dem die brutale Verfolgung der Juden weltöffentlich wurde, ein Tag, an dem die Nazis eine Grenze überschritten: von der Diskriminierung und Drangsalierung hin zur offenen Tat, zu Mord und Totschlag. Der 9. November zeigt mit seinem Brutalisierungsschub die Bereitschaft zur Massenvernichtung an, den Willen zur späteren Ermordung von über sechs Millionen Juden.

Die Reichspogromnacht hat eine lange und eine kurze Vorgeschichte. Die lange erzählt sich am 9. November entlang — mit Anfang und Ende der ersten Demokratie in Deutschland. Am 9. November 1918 geht das Kaiserreich in der Revolution unter und ebnet den Weg zur Weimarer Republik, gegen die Hitler am 9. November 1923 in München zu putschen versucht. Die kleinere Vorgeschichte ereignet sich Anfang November 1938 in Paris.

Dort erfährt der 17-jährige polnische Jude Herschel Grynszpan, dass seine Familie von den Nazis aus Hannover vertrieben wurde. Herschel besorgt sich daraufhin einen Revolver und zieht am 7. November los, um den deutschen Botschafter zu erschießen. Doch er gelangt nur bis zum Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath, auf den er fünf Schüsse abfeuert. Am Spätnachmittag des 9. November wird vom Rath seinen Verletzungen erliegen.

Das Attentat spielt den Nazis in die Karten. So wird die Tat zum Vorwand, eine organisierte Volksempörung zu inszenieren. Eine ähnliche Gelegenheit hatte es zwar schon drei Jahre zuvor gegeben, als der jüdische Student David Frankfurter den NSDAP-Funktionär Wilhelm Gustloff erschoss. Doch der Zeitpunkt war für die braunen Machthaber damals extrem ungünstig: Zu den Olympischen Spielen in Deutschland wollte man möglichst keine schlechten Schlagzeilen.

Das ist jetzt anders, und die Nazi-Informationsmaschinerie läuft schon am Abend dieses 9. Novembers auf Hochtouren. Propagandaminister Joseph Goebbels wird der Nazi-Mann der Stunde, er soll die grausame Regie für die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November führen. Dazu trifft es sich gut, dass die sogenannte alte Garde mit Adolf Hitler in München zusammensitzt zur jährlichen Erinnerungsfeier des seinerzeit gescheiterten Putschversuches.

Goebbels unterrichtet den Nazi-Führer, der stimmt zu, will aber als Staatsoberhaupt keine Verantwortung tragen. So regiert in dieser Nacht allein Goebbels, der SA, SS und zum Teil auch Hitlerjugend im ganzen Land mobilisiert und in Räuberzivil in Bewegung setzt. Auch Anweisungen an Feuerwehr und Polizei ergehen, auf keinen Fall einzugreifen. Dass der Sturm der Empörung tatsächlich vom Volk losgetreten wird, glaubt kaum jemand.

Zu organisiert verrichten die Schergen ihr Vernichtungswerk; zudem ist es unwahrscheinlich, dass zeitgleich überall in Deutschland Synagogen abgebrannt und Juden verfolgt werden. Die Durchschaubarkeit ihres Plans macht den Nazis wenig aus; die Reichspogromnacht ist für sie ein letzter Schritt zur Massenvernichtung, sie ist eine Art Test, mit dem man herausfinden will, wie weit man ohne größeren Widerstand gehen kann. Im mörderischen Sinne der Nazis fällt das Ergebnis zufriedenstellend aus.

So genau die Entscheidungswege der Täter nachgezeichnet werden können, so unklar sind bis heute die Zahl der Opfer und das Ausmaß der Verwüstung. Irgendwann hat man sich auf 91 getötete Juden verständigt sowie auf 267 zerstörte, geschändete Synagogen. Das Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut der Universität Duisburg-Essen hat zum Jahrestag neue, regional recherchierte Zahlen publiziert.

Danach liegt die Zahl der Todesopfer bei über 1000 und die Zahl der zerstörten Synagogen bei mehr als 1600. Zudem werden in der Nacht mehrere Tausend jüdische Geschäfte verwüstet und geplündert und fast alle jüdischen Friedhöfe geschändet. Über 30 000 Juden werden am nächsten Tag verhaftet und deportiert — in die deutschen Konzentrationslager von Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen.

Unumstritten ist die Vernichtungsaktion unter den Nazi-Führern keineswegs. Denn eigentlich war das Ziel der braunen Politik die massenhafte "Auswanderung der im Reichsgebiet lebenden Juden". Doch wird diese Vertreibungs-Taktik durch das eigene Eroberungsstreben zunichte gemacht. Tatsächlich wächst die Zahl der Juden im Reich: Allein durch den Anschluss Österreichs kommen zu den noch 350 000 Juden im sogenannten Altreich jetzt knapp 200 000 Juden hinzu.

Goebbels kann sich zwar der Rückendeckung durch Hitler sicher sein, doch wettert Hermann Göring gegen die Brandschatzung der Pogromnacht. In seinem Einspruch spiegeln sich jedoch keine Restbestände von Menschlichkeit; es geht dem Rüstungsminister und Verantwortlichen für den Vierjahresplan der Wirtschaft vor allem ums Geld. Und in dieser Funktion trauert er den "vernichteten Werten" nach. Finanziell sieht es ohnehin nicht rosig aus: Das deutsche Haushaltsdefizit liegt 1938 bei etwa zwei Millionen Reichsmark.

Doch dann wird eine zynische Lösung zum Wohle der wichtigen Rüstungskasse gefunden — die "Judenbuße". Danach sollen die Juden den Schaden, der ihnen zugefügt wurde, dem Staat ersetzen und obendrein eine Strafe in die Reichskasse zahlen. Auf 225 Millionen Reichsmark beläuft sich die erste und auf über eine Milliarde Reichsmark die zweite Forderung.

Vielerorts wird heute der Reichspogromnacht gedacht. Das erscheint im Sinne einer fortwährenden Aufklärung alternativlos. Doch gibt es auch Kritiker wie den jüdischen Historiker Michael Wolffsohn, für den ein solches Gedenken sich zu oft in sinnentleerten Ritualen erschöpft, bei denen die immergleichen Redner die immergleichen Worthülsen verbreiten. Man wird dabei auch über den Begriff der Reichskristallnacht reden, der verharmlosend ist, weil mehr als bloß ein paar Scherben in dieser Nacht zu Bruch gingen.

Und man wird über neue Synagogen sprechen, die ein neues Selbstverständnis der Juden in Deutschland anschaulich machen. Es sind keine unscheinbaren Hinterhof-Bet- und -Versammlungsräume mehr, sondern mittlerweile moderne, mutige, prägnante Bauten wie die Synagogen in München, Gelsenkirchen und Duisburg. "Wer ein Haus baut, der will bleiben", heißt es dann.

Die Zeit heilt nicht nur Wunden. Manchmal kann sie auch alte einfach nur vergessen machen, indem sie Vergangenes in den Erinnerungen nachfolgender Generationen mehr und mehr grau werden lässt. Wie bei den vermutlich ahnungslosen Betreibern des thüringischen Wellnessparks "Kristall", der für den heutigen 9. November zu einer "langen romantischen Kristall-Nacht" eingeladen hatte.

(RP)
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