Düsseldorf 1913 – der Beginn der Gegenwart

Düsseldorf · Florian Illies erzählt in seinem neuen Buch die Geschichte des Jahres vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In seiner Textcollage ersteht es neu als Jahr, in dem unsere Gegenwart begann. Der kundige, amüsante Band bietet Kulturgeschichte im Stile der großen Feuilletonisten der 1920er Jahre.

In den ersten Januarwochen des Jahres 1913 kommt ein verwahrloster 34-jähriger Russe im verschneiten Wien an. Josef Stalin wird nur für vier Wochen bleiben, gestern hat er noch in Krakau gegen Lenin Schach gespielt, von morgen an will er recherchieren für seinen Artikel über die nationale Frage. Täglich wird er nun durch den Schönbrunner Park gehen, stets in der Dämmerung. Denselben Zeitvertreib pflegt ein anderer Mann, der ebenfalls auf seine Chance wartet, und in seinem Kopf irrlichtern Gedanken über ähnliche Themen: Adolf Hitler ist 23 Jahre alt und ein gescheiterter Maler, dem die Akademie die Aufnahme verweigerte. Nun lebt er im Männerwohnheim an der Meldemannstraße. Vielleicht haben sich die beiden einmal höflich gegrüßt und den Hut gelüpft, als sie ihre Bahnen zogen durch den unendlichen Park. Sicher ist: Selbst als Stalin und Hitler 1939 ihren verhängnisvollen "Pakt" schließen, begegnen sie einander nicht. Sie sind sich nie näher als an jenem bitterkalten Nachmittag nahe dem Schloss Schönbrunn.

Florian Illies erzählt diese Episode in seinem neuen Buch "1913". Es handelt von einem Jahr, dem die meisten bislang kaum Bedeutung beigemessen haben – höchstens insofern, als es das Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist. Bei Illies indes wird das Jahr am Abgrund zu einer eigenen Größe, bedeutsam aus sich selbst heraus. Er schreibt: "Das Zeitalter der Extreme, das schreckliche kurze Jahrhundert, beginnt an einem Januarnachmittag des Jahres 1913 in Wien."

Nicht nur in Sachen Weltpolitik, auch in der Kunst, Musik, Psychoanalyse und der Literatur sieht der Autor Ereignisse, die den Beginn unserer Gegenwart markieren. Franz Marc schickt Else Lasker-Schüler eine Postkarte, auf die er ungewöhnlich kolorierte und zum Turm gruppierte Pferde zeichnet: "Der Blaue Reiter begann zu galoppieren." Oswald Spengler schreibt in München an seinem Monumentalwerk "Der Untergang des Abendlandes". Robert Musil lässt den "Mann ohne Eigenschaften" 1913 spielen. Der Prototyp des ersten Aldi-Supermarktes wird in Essen eröffnet. In Mailand entsteht die erste Prada-Filiale. Max Weber spricht von der "Entzauberung der Welt". Marcel Proust veröffentlicht den ersten Band von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Und in der sogenannten Armory-Schau in einem ehemaligen Waffenarsenal schauen die Menschen in New York auf Werke von Picasso, Munch und Matisse: "Nun ist die Kunst des 19. Jahrhunderts an ihr Ende gekommen." Den Nullpunkt werden das auf einen Hocker montierte Rad von Duchamp und das schwarze Quadrat von Malewitsch bilden.

Illies collagiert Originalzitate und nachgezeichnete Vorgänge, Verdichtung und Wahrheit. Das Buch setzt sich aus Episoden zusammen; Illies schreitet wie ein Flaneur durch die zwölf Monate, verweilt kurz, geht weiter, schaut woanders hin und verdeutlicht so die Gleichzeitigkeit der Ereignisse. Er schreibt in der Tradition der Feuilletonisten der 1910er und 20er Jahre, der hohen Zeit einer Textsorte, die durch Beobachtung und Zuspitzung Gegenwart zu erfassen suchte. Siegfried Kracauer war ein Meister dieser Form, Peter Altenberg, auch Joseph Roth. Geschichte wird hier in Apercus und mit geistesgeschichtlichem Witz vorgeführt. Illies' Kniff besteht nun darin, die letzten Tage des alten Europas in heiterem Tonfall abzuhandeln, sein Sprecher gibt sich dabei als Bewohner unserer Welt zu erkennen, der subjektive Faktor verstärkt den dramatischen Effekt. Im Grunde klingt der Band wie Illies' längst zum Klassiker des Kulturjournalismus gereiftes Sachbuch "Generation Golf": Es geht um eine Gesellschaft kurz vor dem Kipp-Punkt, Bilder, Artefakte und Persönlichkeiten dienen als Orientierungspunkte einer Generation, der Sound ist souverän-ironisch. In einer der schönsten Szenen sitzt Thomas Mann in Berlin im Theater neben Star-Kritiker Alfred Kerr. Sie sehen Manns Drama "Fiorenza", die Premiere ist fürchterlich. Mann sieht Kerr sadistisch lächeln. Kerr warb einst um Katia Pringsheim, die sich aber für den Autor der "Buddenbrooks" entschied. Kerr verreißt das Stück noch in derselben Nacht. Mann braucht sechs Monate, um sich davon zu erholen.

Es gibt Leitmotive, die das Puzzle aus immenser Lektüre, vier Jahre währender Recherche und ungeheurem Formwillen strukturieren. Das erste ist die Frage nach dem Verbleib der 1911 aus dem Louvre gestohlenen "Mona Lisa" – wegen ihres Fehlens wird sogar Picasso wegen Diebstahlverdachts verhört. Im Dezember 1913 taucht das Gemälde in Florenz auf. Die zweite Klammer ist die Frage: "Wo steckt Rilke?" Meist kränkelt der Dichter, schreibt Verse in einem Café oder Briefe an seine adligen Gönnerinnen. Illies zwinkert dem Leser zu, der die "Duineser Elegien" halb gelesen auf dem Nachttisch liegen ließ. Und es gelingt ihm, Vergangenheit als Gegenwart zu erzählen. Illies ist nicht an Moral gelegen, er tritt nicht als Gelehrter auf. Vielmehr arbeitet er an einem Panoramabild der bürgerlichen Gesellschaft, am geistigen Grundriss der Welt. Das Faszinierende ist, dass das Aroma der Zeit, das er destilliert, ähnlich schmeckt wie das der unseren. Die Menschen, die damals auf 42 Jahre Leben im Frieden zurückblickten, werden von ähnlichen Ängsten geplagt, auch sie sind Beobachter einer Zeitenwende, die sich ohne ihr Zutun vollzieht.

Das Buch verdient das größte Kompliment: Es ist, als sei man dabei gewesen. Proust schreibt: "Die Wirklichkeit, die ich einst kannte, existierte nicht mehr. Die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist wehmutsvolles Gedenken an einen bestimmten Augenblick; und Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach! die Jahre."

(RP)
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