Gastbeitrag Katja de Bragança Ein Kuss für Ohr und Auge

Bonn · Die Autorin ist Chefredakteurin des Magazins Ohrenkuss, für das Menschen mit Down-Syndrom schreiben.

 „Geträumt – Mein eigenes Zimmer“ heißt das Bild von Susanne Kümpel. Es zeigt, dass die Malerin Ordnung liebt, wie übrigens viele Menschen mitDown-Syndrom.  Foto: C KUNSTHAUS KAT18/ REPRO: ENNO JÄKEL

„Geträumt – Mein eigenes Zimmer“ heißt das Bild von Susanne Kümpel. Es zeigt, dass die Malerin Ordnung liebt, wie übrigens viele Menschen mitDown-Syndrom. Foto: C KUNSTHAUS KAT18/ REPRO: ENNO JÄKEL

Foto: C KUNSTHAUS KAT18,REPRO: ENNO JÄKEL

Nun kann man natürlich mich fragen, warum ich überhaupt schreibe. Die Antwort ist ganz einfach. Ich liebe nun einmal Kinder und möchte schon ganz gern für sie schreiben. Wenn jemals meine Geschichten und Gedichte in weiter Welt ja einmal bekannt würden, würde ich mich sehr freuen.“

Dieser Satz hat Herausgeberin Bärbel Peschka der 2017 veröffentlichten Märchensammlung von Achim Priester vorangestellt. Der Autor wurde im Jahr 1958 geboren. Es ist sein erstes veröffentlichtes Buch.

Als Achim Priester geboren wurde dachte man: Menschen mit Down-Syndrom können nicht lesen und schreiben. Das hat sein Kinderarzt seinen Eltern mitgeteilt. Er sollte nicht Recht behalten, denn Priester schreibt sein Leben lang Texte aller Art. Gedichte, Geschichten, Märchen, Reiseberichte, Tagebuch, Briefe und nicht zu vergessen: Klapphornverse.

Das Besondere ist jedoch: Achim Priester lebt mit dem Down-Syndrom. Er hat ein zusätzliches Chromosom in jeder Zelle seines Körpers. Das Chromosom 21 ist dreimal vorhanden. Diese Besonderheit hat einige Auswirkungen auf das Leben der betroffenen Menschen. Für Achim Priester heißt das: Sein Witz und Humor haben eine besondere Ausprägung. Er braucht in manchen Dingen Unterstützung. Oft braucht er mehr Zeit als Menschen ohne Down-Syndrom. Seine Eltern aber haben seine außergewöhnliche Begabung, trotz der anfangs widrigen Prognosen, früh erkannt und lebenslang gefördert.

Jetzt kann man sagen: Achim Priester hatte Glück. Seine Familie fördert sein schriftstellerisches Talent, sie erkennt, dass er ohne Schreiben nicht leben kann. Doch diese Einschätzung stimmt nur zum Teil, denn Achim Priester führt kein Leben als Schriftsteller. Er ist ausgeschlossen vom selbstverständlichen Alltag mit Gleichaltrigen. Achim Priester arbeitet als Erwachsener in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Dort gibt es einen klar geregelten Arbeitsalltag und die Entlohnung davon ist weit vom inzwischen etablierten Mindestlohn entfernt. Aber auch hier hatte Achim Priester erneut Glück. Auch hier schreibt er, statt Schrauben in Pappkisten zu sortieren. Er bevorzugt A4 Schreibhefte, die er mit seiner schönen Schrift von der ersten bis zur letzten Seite füllt. Er hat im Laufe seines Lebens zahlreiche Umzugskartons gefüllt, die von einer Freundin, der Bonner Professorin Brigitte Petersen, sicher verwahrt wurden. Daraus sind inzwischen zwei Bücher entstanden.

Seit 2013 schreibt Achim Priester nicht nur Klapphornverse, sondern auch Texte für das Magazin Ohrenkuss. Das Team ist genauso speziell wie er: Alle Autorinnen und Autoren des Ohrenkuss haben das Down-Syndrom.

Das Ohrenkuss Magazin feiert im Jahr 2018 das 20-jährige Bestehen. Da es halbjährlich erscheint, sind seitdem bereits 40 monothematische Ausgaben erschienen.

1998 erscheint die erste Ausgabe. Sie hat das Thema Liebe, denn das Team hat gemeinsam entschieden: Dieses Thema ist für alle Menschen auf der Welt das Wichtigste. Diese Ausgabe, genauso wie die drei folgenden, verändert den Blick auf Menschen mit Down-Syndrom völlig. Sie zeigt: Anders als nach Lehrmeinung bisher angenommen, können Menschen mit Down-Syndrom lesen und schreiben lernen. Und nicht nur das, sie tun es auch noch auf eine interessante und besondere Weise. Ihre Sprache ist auf faszinierende Weise gleichzeitig sehr poetisch und minimalistisch klar.

Die Medien sind fasziniert – es gibt viele Berichte im Radio, in der Zeitung und im Fernsehen. Besonders beeindruckt ist man von der Gestaltung und den Fotos jeder neuen Ohrenkuss Ausgabe.

Das Magazin ist 1998 im Rahmen eines Forschungsprojektes am Medizinhistorischen Institut der Bonner Universität entstanden. Es geht um die Frage: „Wie sieht die Welt Menschen mit Down-Syndrom, wie erleben Menschen mit Down-Syndrom die Welt?“

Um mehr darüber zu erfahren, wird beschlossen, eine Zeitung zu machen, in der nur Personen mit Down-Syndrom schreiben. Sie berichten in ihren Worten über ihre Sicht der Welt.

Die Texte im Heft werden nicht zensiert, Schreibfehler nicht korrigiert, die Satzstellung wird so belassen wie sie ist. Außergewöhnliche neue Wortschöpfungen werden hervorgehoben, statt sie zu glätten. Sie machen einen Teil des Charmes der Texte aus. Und sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Fachleute glauben: Ja, diesen Text hat tatsächlich eine Person mit Down-Syndrom geschrieben. Ein Vorurteil wandelt sich in eine zeitgemäße Sehweise. Nun, 20 Jahre später, geht es nicht mehr um das „nicht schreiben können“, sondern darum, dass die Texte eine Besonderheit sind: der Humor, die Knappheit und der besondere Blick auf die Welt. Grafikerinnen und Texter abonnieren das Magazin, Lehrerinnen lassen sich inspirieren und Ärzte sind froh, dass sie gutes Bildmaterial in der Beratungssituation haben.

Die Fotos jeder Ausgabe werden von professionellen Fotografinnen und Fotografen gemacht. Es sind intime und starke Fotos. Menschen mit Down-Syndrom werden respektvoll abgebildet. Die Fotografin oder der Fotograf zeigt in den Bildern ihren oder seinen individuellen Blick auf Menschen mit Down-Syndrom.

Im Laufe der Jahre ändert sich somit auch das in der Gesellschaft vorhandene Bild dieser Menschengruppe: Sie wirken auf einmal selbstbewusst, cool, interessant und aktiv. Vertreter und Vertreterinnen der medizinischen Berufe beginnen, diesen zeitgemäßen Blick zu übernehmen – und das Ergebnis ist oftmals eine andere Erst-Beratung der Familien mit einem Baby mit Down-Syndrom.

Um „die Welt da draußen“ zu erreichen, entscheiden wir uns von Anfang an für ein professionelles Layout. Die Grafikerin Maya Hässig ist von Anfang an dabei. Das Ergebnis sind ansprechende und moderne Ausgaben des Magazins mit einem wiedererkennbaren Design. Anerkennung erfahren wir durch zahlreiche Preise und Ehrungen: Für das Erscheinungsbild, für die ungewohnten und beeindruckenden Texte, für Aktionen, die selbstverständlich inklusiv sind.

Kinder mit Down-Syndrom, die um 1998 geboren sind, sind mit dem Magazin groß geworden. Ihr Umfeld geht seit Anbeginn davon aus, dass dem Kind alle Möglichkeiten offen stehen – das macht Mut.

Bedauernd wird oft gesagt: Diese oder jene Menschengruppen habe keine Lobby. Niemand spricht für sie. Politiker und Politikerinnen hören ihnen nicht zu. Sie sind nicht interessiert. Die Dinge würden sich für sie nicht ändern.

Das stimmt für Menschen mit Down-Syndrom nicht. Die Dinge ändern sich, und dafür braucht es Zeit. Wie auch ein Mensch mit Down-Syndrom für manche Dinge viel Zeit braucht.

Natalie Dedreux ist seit 2016 Ohrenkuss-Autorin. Sie ist genauso alt wie der Ohrenkuss. Und sie nimmt die Dinge selbst in die Hand. Im September 2017 stellte sie in der Wahlarena eine Frage an Bundeskanzlerin Angela Merkel: Warum dürfen Babys mit Down-Syndrom noch wenige Tage vor der Geburt abgetrieben werden?

Nicht nur das Leben von Natalie Dedreux hat sich seitdem verändert, auch das vieler Menschen, die mit dem Down-Syndrom leben. Sie werden jetzt anders gesehen und sie wissen: Ich kann mitreden. Ich kann für mich selbst sprechen. Ich ändere die Welt, wenn ich mich zu etwas äußere. Die Bedingungen für gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Down-Syndrom müssen an vielen Stellen noch verbessert werden. Aber aus den 20 Jahren Erfahrung im Ohrenkuss-Projekt sind wir uns sicher: Das wird passieren. Daher verabschieden wir uns mit dem Lieblings-Ausspruch von Gründungsmitglied Michael Häger und sagen: „Weiter so!“

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