Halloween Mythos Michael Myers

Vor 50 Jahren erstach der sechsjährige Michael Myers seine Schwester mit einem Küchenmesser und ließ das Morden danach nicht mehr sein. Wer ist der Mann, der durch die "Halloween"-Reihe zu einem der berühmtesten Bösewichte der Filmgeschichte wurde?

Das Zweitschlimmste an Michael Myers ist, dass er überall sein könnte. Auf dem Rücksitz deines Autos. In deinem Kleiderschrank. In deinem Keller. In deinem Wohnzimmer. In der Schule. Im Park. Im Krankenhaus. Es könnte sein, dass er jetzt gerade hinter dir steht und dich beobachtet. Wenn du genau hinhörst, bemerkst du vielleicht sein schweres Atmen, aber dann ist es sowieso schon zu spät. Chch… chchch. Es könnte sein, dass du ihm in zehn Jahren in die Arme läufst. Deine Chancen, ihm zu entkommen, stehen in jedem Fall ziemlich schlecht. Er muss nicht einmal rennen, um dich einzuholen. Er ist zwar 56 Jahre alt, aber die Gesetze der menschlichen Biologie haben für ihn noch nie gegolten.

Es ist der 31. Oktober 1963 in Haddonfield, Illinois, das aussieht wie eines dieser amerikanischen Suburbs, in denen sich Einfamilienhaus an Einfamilienhaus reiht. Das Ehepaar Myers ist an diesem Halloween-Abend unterwegs. Tochter Judith ist zuhause geblieben. Sie fummelt auf der Couch mit ihrem Freund herum, dann gehen sie in Judiths Zimmer in die erste Etage, um miteinander zu schlafen. Doch die beiden sind nicht allein. Judiths sechsjähriger Bruder Michael, ein blonder Junge im Clownskostüm, schleicht ums Haus herum und belauscht sie.

Als er sieht, wie im Zimmer seiner Schwester das Licht erlischt, geht er in die Küche und nimmt ein großes Messer aus der Schublade. Nach einer Weile verlässt der Freund das Haus. Michael geht die Treppe hinauf. Er setzt sich eine Clownsmaske auf und geht in ihr Zimmer. Sie sitzt nur mit einer Unterhose bekleidet summend vor dem Spiegel und kämmt sich. Ihren Bruder bemerkt sie erst, als der vor ihr steht und mit dem Messer ausholt. Sie sagt noch entsetzt "Michael!", dann sticht er zu, bis sie tot auf dem Boden liegt. Es ist sein erster Mord. Es wird nicht sein letzter sein.

Eine Kraft, die nie vergehen wird

Niemand entkommt Michael Myers. Niemand entkommt dem Mann, der 1978 zum ersten Mal im Kino zu sehen war. In John Carpenters Klassiker "Halloween", der bloß 325.000 Dollar kostete und nach Anlaufschwierigkeiten weltweit 70 Millionen Dollar einspielte. Es war Carpenters Durchbruch und gleichzeitig sein größter Erfolg als Horrorfilm-Regisseur, später sollte er noch weitere Klassiker wie "Nebel des Grauens", "Christine" und "Die Klapperschlange" drehen, aber auch viel Schund. Zwar hat er bei "Halloween" nicht nur Regie geführt, sondern auch das Drehbuch und den Soundtrack geschrieben, die Idee jedoch hatte der amerikanische Produzent Irwin Yablans, der Carpenter vorschlug, einen Film über einen irren Killer zu drehen, der an Halloween Babysitter abmurkst. Und Carpenter schuf Michael Myers.

"Eine Kraft, die nie vergehen wird", sollte Myers sein, wie er später in einem Interview sagte und dachte bei der Figurenzeichnung auch an den Tag, als er als Student eine psychiatrische Anstalt besucht und diesen schizophrenen Jungen mit diesem teuflischen Blick gesehen hatte. Als Ehrerweisung benannte er Myers nach dem Mann, der den Vertrieb für seinen vorigen Film in Europa übernommen hatte. "Halloween" etablierte das Genre des "Slashers", das seinen Ursprung in "Psycho" hat, im Mainstream und machte es so populär, dass danach in sehr vielen Filmen Serienkiller Jagd auf Teenager und Erwachsene machten.

"Freitag der 13.", "My Bloody Valentine", "Nightmare on Elm Street", viel später "Scream" und "Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast". Die "Halloween"-Reihe selbst brachte zehn Teile hervor, bei dem sich bis auf den dritten immer alles um Michael Myers dreht, der letzte ist von 2009. Stets ist da dieser riesige Kerl, der für jeden neuen Film an Halloween nach Haddonfield zurückkehrt, Angst und Schrecken verbreitet und Leute umlegt. Seine Bewegungen ähneln denen eines Roboters. Immer trägt er einen dunklen Overall und eine weiße, ausdrucklose Maske und guckt durch diese schwarzen Augen.

Das ist sein Outfit seit 1978. 15 Jahre sitzt er damals, ohne ein Wort gesprochen zu haben, in der Psychiatrie von Smith's Grove, weil er seine Schwester ermordet hat. Er wird auch kein Wort mehr sprechen. Sein Psychiater Dr. Loomis hat die Hoffnung aufgegeben, dass sich der 21-Jährige therapieren lässt, und tut alles dafür, dass Myers für immer weggesperrt wird. Weil er weiß, wie gefährlich er ist. Doch in der Nacht zum 31. Oktober 1978 bricht Myers aus und fährt mit einem Auto nach Haddonfield. Auf dem Weg dorthin tötet er einen KFZ-Mechaniker und tauscht sein Patientenhemd gegen dessen Overall. In seiner Heimatstadt bricht er in einen Laden ein, stiehlt ein paar Messer und eine Gummimaske. Die Maske, die ihm sein Gesicht gibt: weiße Haut, tote Augen, nach hinten gekämmte braune Haare. Eigentlich zeigt die Maske das Gesicht von Captain Kirk alias William Shatner, doch weil sie so stark verändert worden ist, erkennt man das höchstens, wenn man es weiß.

Er spießt ihn mit dem Messer an die Tür

Am Halloween-Abend setzt er das Morden fort. "Death has come to your little town", sagt sein zum Gegenspieler gewordene Arzt Dr. Loomis zum Sheriff. Zunächst erwürgt Myers eine Babysitterin in ihrem Auto, die gerade zu ihrem Freund fahren will. Danach erledigt er ein Teenie-Pärchen nach dem Sex. Ihn spießt er mit dem Messer an einer Tür auf, sie erdrosselt er mit dem Telefonkabel. Man vermutet deshalb bis heute, dass er Menschen bestraft, die vorehelichen Sex haben.

Aber das ist Blödsinn. Teenager, die Sex haben, sind bloß so abgelenkt, dass sie nichts um sich herum wahrnehmen. Und sowieso, das Mädchen, das er sich als final girl, als letztes Opfer des ersten Teils ausgesucht hat, ist enthaltsam wie eine Nonne. Er hat Laurie Strode (Jamie Lee Curtis) bereits in die Enge gedrängt, sie ist ebenfalls Babysitterin und wird sich später als seine Schwester herausstellen, da kommt Dr. Loomis die Treppe hochgerannt und schießt sechs Mal in seinen Körper. Mit dem letzten Schuss fällt Myers vom Balkon auf den Rasen vorm Haus. Als Loomis nachsieht, ist Myers verschwunden.

So geht das immer weiter. Manchmal lässt sich Michael Myers Jahre nicht blicken, weil er sich von seinen Verletzungen erholen muss, weil er aus einer Anstalt ausbrechen muss, dann taucht er, stets zu Halloween, doch wieder in Haddonfield auf, um sein düsteres Werk fortzusetzen. Er erschlägt Menschen mit dem Hammer, drückt sie unter Wasser, vergiftet sie mit einer Spritze, schneidet ihnen die Kehle durch, durchbohrt sie mit Eisenstangen, Messern, Scheren, schließt sie an Starkstrom an, erschlägt sie mit der Axt. Selbst eine Harke wird in seinen Händen zur Waffe. Je älter Myers wird, desto brutaler und schneller mordet er sich durch seine Heimatstadt. Schließlich verbringen 2002 sechs Kandidaten für eine Internetshow eine Nacht im Myers-Haus. Er erledigt einen nach dem anderen. Am Ende rafft ihn elektrischer Strom scheinbar dahin. Doch als er in die Leichenhalle gebracht worden ist, schlägt er wieder seine Augen auf. Natürlich.

Es fehlte nicht an Versuchen, Myers zu töten. Er hat Stricknadeln in seinem Hals, aufgebogene Kleiderbügel in seinem Auge und Messer in seiner Brust überstanden, er wurde von Dutzenden Kugeln durchsiebt, er hat Gasexplosionen und Autounfälle überlebt. Er fällt Abhänge, Schluchten und Treppen herunter. An die zahllosen Schläge mit Fäusten, Holzlatten, Feuerlöschern, Äxten und Gewehrkolben erinnert er sich vermutlich nicht mehr. Er bleibt höchstens kurz wie tot liegen und steht dann wieder auf. Am Ende von "Halloween H20" wird er sogar geköpft. Trotzdem gibt es eine Fortsetzung, weil es die falsche Person erwischt hat, Myers hatte ihm nur seine Maske übergezogen. "You can't kill the bogeyman", sagt ein kleiner Junge im ersten Film. Du kannst den Schwarzen Mann nicht töten.

Keine Gefühle, keine Moral

Damit gibt er einen Hinweis auf den schlimmsten Aspekt des Michael Myers. Es ist nicht die Tatsache, dass er das Morden nicht lässt. Nicht die Tatsache, dass er immer wieder aufsteht, nicht seine unheimlich Maske. Das Schlimmste an Michael Myers ist der Antrieb für das Morden, der ihn von fast allen anderen Bösewichten des Horrorfilms unterscheidet: Es gibt nämlich keinen. Jedenfalls keinen, der sich benennen ließe. Andere brauchten Blut, waren Hinterwäldler und deshalb ohnehin nicht zurechnungsfähig, durch atomare Strahlen verseucht, sie wollten Rache nehmen oder waren sexuell gestört.

Auch wenn immer wieder versucht worden ist, Gründe für Myers Handeln anzugeben, überzeugend waren sie nicht. Auch die verschiedenen Drehbuchautoren haben in späteren Filmen der Reihe Erklärungen gesucht. Erst war er hinter seiner Schwester her, dann hinter der Tochter seiner Schwester und schließlich wird ein Druidenkult für seine Taten verantwortlich gemacht, der ihn zwingt, seine ganze Familie auszulöschen. Doch am sinnvollsten ist noch immer das, was Dr. Loomis gleich zu Beginn sagt. Er habe erkannt, dass das, was hinter den Augen des Jungen lebe, "purely and simply evil" sei, das reine Böse. Er spricht Myers ab, ein Mensch zu sein, weil er keine Gefühle hat, keine Moral kennt.

Doch auch das Böse ist nur unser Begriff für das Unbegreifliche. Warum tut jemand so etwas? Myers ist die überzeichnete Version des jugendlichen Schul-Amokläufers, bei dem wir uns auch genau diese Frage stellen. Wir suchen Gründe — er hat Ballerspiele gespielt, er wurde von seinen Eltern vernachlässigt — und doch klingen diese banal angesichts der Schreckenstaten. Die Wahrheit ist, dass wir oft genug nicht wissen, warum jemand handelte, wie er handelte. Michael Myers ist zwar übermenschlich, aber trotzdem einer von uns, er kommt aus white suburbia, nicht aus einem Problemviertel. Nicht ohne Grund nimmt die Kamera stellvertretend für den Zuschauer in den Halloween-Filmen häufig die Perspektive von Myers ein, nicht ohne Grund wird er im Abspann bloß "The Shape" genannt. Michael Meier, was für ein gewöhnlicher Name. Jeder könnte hinter der Maske stecken. Und jederzeit sein Werk fortsetzen. Chchch.

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