Lieder unseres Lebens Out Of Reach (Get Up Kids)

Leipzig (RPO). In unserer neuen Serie "Lieder unseres Lebens" erzählen Autoren, mit welchen Songs sie besondere Erlebnisse verbinden. Kerstin Petermann berichtet von ihrer Zeit als Auslandsstudentin in England.

 Müssten noch viel häufiger mit den Darstellern von O.C. California verwechselt werden - die Get Up Kids.

Müssten noch viel häufiger mit den Darstellern von O.C. California verwechselt werden - die Get Up Kids.

Foto: Universal Music

Mit Vollgas überholt mich die Vergangenheit. Sie blinkt nicht einmal, sondern wechselt ohne Ankündigung die Spur und rast vorbei. Trotz der Überschallgeschwindigkeit höre ich deutlich einige Zeilen des Liedes, mit dem sie mich überholt:
"A Long way from home, Lost by an echo
I'd never have known. I've got pictures to prove I was there.”

Es sind die "Get Up Kids” mit "Out Of Reach". Vor sechs Jahren ist das Lied in mein Leben gestürmt. Wenn ich "Out Of Reach" heute höre, dann fühle ich mich keinen Tag älter als vor sechs Jahren, als mich das Lied so sehr begleitet hat. Ich war damals für ein halbes Jahr in Leeds und es spielte keine Rolle, dass das Lied damals schon vier Jahre alt war. Ich war "a long way from home" Ein bisschen verloren fühlte ich mich auch und da kam die Melancholie der "Get Up Kids" gerade recht.

Fast jeden Morgen lief ich eine dreiviertel Stunde von der WG, in der ich wohnte, in die Universität, an der ich studieren sollte. In diesen fünfundvierzig Minuten war ich mit den "Get Up Kids" alleine. Ich lief die eine Straße entlang, immer gerade aus, an Häuserzeilen vorbei, die alle gleich aussahen, und an Bäumen, die schon im Frühjahr dürr aussahen, und ich hörte Jim Suptics Stimme, die viel melancholischer klang, als ich mich eigentlich fühlte.

In diesen fünfundvierzig Minuten fühlte ich mich so allein, wie ich dachte, dass ich es müsste, so weit weg von zu Hause. Es war schön, wenigstens in diesen fünfundvierzig Minuten das Gefühl zu haben, weit weg zu sein; weit weg von der Stadt, in der ich lebe, von den Straßen, die ich kenne, von den Freunden, mit denen ich mich gerne treffe. Diese Entfernung müsste einen eigentlich verändern, man müsste sich weiterentwickeln. Darauf habe ich ein halbes Jahr lang gewartet und bin dabei viel mehr derselbe Mensch geblieben als zuvor.

Besonders weit weg von zu Hause trugen mich die fünfundvierzig Minuten mit "Out Of Reach", wenn ich nachts aus der Stadt wieder zurück in die WG lief, nachdem ich mich mit anderen Austauschstudenten im Pub getroffen hatte. Im Pub war es noch wie in Deutschland gewesen. Auf dem Weg zurück in die WG mit "Out Of Eeach" war ich wieder meilenweit von Deutschland entfernt. Ich war mit mir und den "Get Up Kids" alleine und stellte mir vor, ich würde niemanden in Leeds kennen. Ich stellte mir vor, den Abend im Pub hätte es nie gegeben und ich hätte nie mit anderen Austauschstudenten angestoßen und Telefonnummern ausgetauscht. Ich genoss es, betrunkene Teenager durch die Nacht an mir vorbeitorkeln zu sehen, sie riefen mir irgendetwas zu und ich würde sie nie wieder sehen. Ich würde die gesamte Stadt wahrscheinlich nicht wieder sehen. Also lief ich temporär durch die Straßen, ohne dass sie ein Provisorium für mich gewesen wären.

Nie wieder war ich so allein mit mir wie in diesen fünfundvierzig Minuten in Leeds. Wieder zurück in Deutschland habe ich das Lied nie wieder gehört. Es kam nie im Radio, nie im Musikfernsehen und ich habe die CD nie in den CD-Player gelegt. Manche denken bei den "Get Up Kids" an Emo und bei Emo an Trennungsschmerz. Aber diese fünfundvierzig Minuten Alleinsein war viel mehr Emo als jeder Trennungsschmerz, über den einem Bands wie eben die "Get Up Kids" hinweg trösten.

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