About a Boy Ich geb dir noch zwei Minuten, Godot

Mönchengladbach (RPO). Unser Kolumnist wartet auf mehrere Dinge und wird darüber wahnsinnig. Anschließend denkt er sich ein neues Schulfach aus, das besonders grausam ist.

 Liebling, ich habe den iPod geschrumpft.

Liebling, ich habe den iPod geschrumpft.

Foto: Getty Images North America, AFP

Ich habe verlernt zu warten. Wenn ich Hunger habe, esse ich einen Apfel oder einen Schokoriegel, anstatt bis zum Mittagessen zu warten. Wenn ich eine Platte haben will, lade ich sie mir herunter, anstatt in den Laden zu gehen. Wenn ich wissen will, wann der Zug fährt, sehe ich auf dem Handy nach, anstatt im Bahnhof auf den Fahrplan zu gucken. Zeitgenössisch heißt das "instant gratification".

Die Situationen, in denen ich gezwungen bin zu warten, sind für mich so schlimm wie für Alex Ferguson die Zeit ohne Kaugummi. Zum Beispiel warte ich seit sechs Wochen auf den Steuerbescheid des Finanzamtes. Ich warte seit vier Wochen auf einen wichtigen Rückruf. Und seit einer Woche auf eine Mail. Ich werde noch wahnsinnig.

Kürzlich habe ich einen Monat auf eine CD gewartet. Es handelte sich dabei um die erste Platte eines Labels aus Brooklyn aus dem Jahr 2003, eine Zusammenstellung verschiedener Musiker. Die Platte gab es nicht zum Herunterladen, ich musste sie im Internet bestellen. Nach drei Tagen erhielt ich eine E-Mail, dass die CD losgeschickt worden sei. Fortan guckte ich jeden Tag in meinen Briefkasten, die Platte lag aber nicht drin. Deshalb schrieb ich eine Mail und fragte, wo sie denn bliebe. Eine Woche lang kam keine Antwort, also schickte ich eine weitere Mail. Nach drei Tagen endlich Antwort: Der Umschlag sei wohl noch unterwegs, man würde sich bemühen, den Verbleib ausfindig zu machen. Anderthalb Wochen später lag die CD endlich im Briefkasten.

Normalerweise reagiere ich so auf neue Platten: Ich höre sie einmal, ziehe sie dann noch auf meine Festplatte und dann verschwindet sie auf immer im Regal. Diesmal aber war es anders. Ich freute mich sehr. Ich hörte sie mehrmals. Ich informierte mich sogar über einzelne Künstler, die zu der CD beigetragen hatten.

Das brachte mich auf das zentrale Problem unserer Zeit: Durch verschiedene technische Entwicklungen ist fast alles sofort verfügbar. Doch was sofort ohne irgendeine Anstrengung, abgesehen von der finanziellen, zur Verfügung steht, das wird auch schnell langweilig. Wie damals an Karneval, als sich mir dieses Mädchen sofort um den Hals geworfen hat. Wir können also immer mehr sofort haben, freuen uns aber immer weniger darüber. Die Welt, jedenfalls die westliche, schlittert auf eine totale Freudlosigkeit zu.

Deshalb sollten in den Schulen keine angeblich so wichtigen Fächer wie Wirtschaftswissenschaften oder Internet eingeführt werden, sondern "geduldiges Warten". In der ersten Lektion legt der Lehrer vor jedem Schüler einen Schokoriegel ab und verlangt von ihnen, diesen bis zum Ende der Stunde anzusehen und erst dann zu essen. Nur wer das schafft, bekommt eine Eins. In der nächsten Stunde zeigt der Lehrer den Schülern einen Kinotrailer mit Transformern und sie dürfen den ganzen Film erst am nächsten Tag illegal auf ihrem Handy sehen. In der Abschlussprüfung müssen sie dann ihren Lieblingssong übers Radio auf Kassette aufnehmen, anstatt ihn herunterzuladen.Sie dürften 24 Stunden keine E-Mails abrufen und müssen zum Bahnhof gehen, um eine Verbindung herauszusuchen. Schließlich müssen sie acht Wochen auf die Note warten, ohne nachzufragen. Pro Nachfragen fällt die Zensur um eine Note. Die VHS würde das Angebot schließlich auch in der Erwachsenenbildung einsetzen.

Falsch ist, dass das nächste Album von Unheilig besser wird, wenn man nur lange genug darauf wartet.

Sebastian Dalkowski veröffentlicht jeden Freitag die Kolumne "About a Boy". Seine bessere Gesichtshälfte hat Andreas Krebs fotografiert.

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